Aleppo - Syrien

„Der Standard“, 19. Juli 2002


Rapid wird in Aleppo Meister

Damaskus gilt als der Nabel Syriens, und in historischer Hinsicht ist die Königin unter den Oasen sogar der vielzitierte Nabel der Welt. Aber da ist noch eine zweite syrische Stadt, die jeder kennt: Aleppo. Ähnlich wie Damaskus hat Aleppo mehrere tausend Jahre Stadtgeschichte vorzuweisen und gehört zu den ältesten durchgehend von Menschen besiedelten Orten. Ähnlich wie die Hauptstadt war da zunächst eine kleine Oase in der Wüste – heute blüht im Umkreis, dank geschickter und nachhaltiger Baumpflanzpolitik, ziemlich viel eigensinniges Grün.

Doch die nordsyrische Metropole mit ihren 2,5 Millionen Einwohnern im Großraum und ihrem atemberaubenden Satellitenschüssel-Wald auf den Dächern, hat für den Flanierer noch einen besonderen Reiz: die Altstadt. Eine reizvolle Steinwüste mit schmalen Gassen und nach innen gewandten Palästen mit Zitronenbäumen in den Patios, mit zur Straße gewandten Werkstätten und Seifenfabriken im Urzustand. Und mit einer mächtigen Zitadelle (hier drehte 1969 Pasolini seine “Medea” mit Maria Callas) als pochendem Herz. Rundherum 355 Hektar traditionelles Stadtgebiet, 110.000 Einwohner, 35.000 Arbeitsplätze.

Nahe der Zitadelle mit ihrem verwinkelten Eingang (das muslimische Prinzip der “Knickachse”), die einem überdimensionalen Fußballstadion gleicht, neben der Esplanade des berühmten Cafés Al-Attar, dehnt sich der Suq aus: Die Aleppiner legen Wert darauf, dass es sich bei den zwölf überdachten Kilometern (größter überdachter Basar der Welt) nicht um einen “Touristenmarkt” wie jenen von Damaskus handelt. Hier kaufen die Bewohner selbst ein, hier wird noch richtig gehandelt. Die Transporteure mit ihren Handwägen nehmen keinerlei Rücksicht auf Menschen oder Eseln, die im Weg stehen - lässt es sich nicht vermeiden, fahren sie notfalls auch über Achillessehnen. Verkauft wird natürlich “alles”, besonders Seidentücher, Schafswolle, die berühmten leicht zitronigen nordsyrischen Pistazien, echter und falscher Safran, Rosenwasser, frisches Gemüse, und, nicht zu vergessen, die berühmte Seife aus Olivenöl und Lavendel. Ganz ohne Politik geht es im Land des Personenkults nicht: Hinter den Köpfen der Verkäufer hängen Posters vom noch immer allgegenwärtigen Staats-Vater und vom sonnenbebrillten kfz-mechanikerhaften Sohn im Army-Look.

“Servus! Woher kommst? Österreich? Rapid wird Meister!” Der Junge mit dem Arafat-Tuch und der Wasserpfeife ist selbst Meister, und zwar im Diagnostizieren von Nationalitäten. Er will ein echtes Seidentuch (“Sehr-Gut-Quality”) verkaufen, und zeigt auch ein fast identisches falsches Seidentuch vor (“Sehr artificial”). Doch das aleppiner Verkaufsgebaren ist, verglichen mit jenem in anderen Teilen der arabischen Welt, nicht besonders aggressiv. Erstens wird bei Touristengütern ohnehin kaum gehandelt (“800 Syrische Pfund ... okay, 790!”), zweitens ist es durchaus möglich, mit den Händlern nur Tee zu trinken – nichts zu kaufen, das gelingt allerdings nur gefestigten Charakteren.

Die Altstadt von Aleppo lebt. Straßen werden aufgerissen, Wasserleitungen erneuert, alte Männer sitzen auf Hockern, Botenjungen und Schulkinder rennen vorbei. Das war nicht immer so. Von der UNESCO in ihrer Gesamtheit zum Weltkulturerbe erklärt, soll sie mithilfe eines weltweit einzigartigen Sanierungskonzepts vor der ungezügelten Modernisierung und Verslumung gerettet werden. Immerhin war zwischen 1970 und 1994 ein Drittel der Bewohner in die Außenbezirke gezogen.

Unter Einbeziehung der Wünsche und Vorstellungen der Bewohner bemüht sich die Stadtverwaltung von Aleppo seit den frühen Neunzigerjahren um eine Revitalisierung der gesamten Altstadt, eines teilweise heruntergekommenen, aber sehr vitalen Organismus. Das Erstaunliche am Konzept: explizit wird ausgesprochen, dass die Altstadt kein Museum werden soll. Das Ziel ist die Schaffung neuer Lebensräume, nachhaltige Entwicklung anstelle von kurzfristigen Investitionen in tourisitische Highlights. Dazu gehört neben der Wiederherstellung der Infrastruktur in erster Linie die Verbesserung der Lebensbedingungen. Eine lohnende Geldausgabe für einen Staat, der (Hauptausrede: Angst vor dem bösen kleinen Bruder im Süden) einen Gutteil des Budgets ins Militär pulvert.

Die Planungsphase hat über ein Jahrzehnt gedauert, inzwischen wurden über 200 Gebäude renoviert, die Bewohner erhielten Kredite; der chaotische unterirdische Wald aus Zuflüssen, Abflüssen, Strom- und Telefonleitungen wurde koordiniert und erneuert. Ein Konzept zur Verkehrsberuhigung konnte, während anderswo irreversible Schäden drohen, das Ärgste verhindern. Auch die klassischen städtebaulichen Elemente werden möglichst beibehalten. Wer genau beobachtet, der kann in Aleppo eckige von runden Straßenecken unterscheiden. Diese Kleinigkeit zeigt dem Spaziergänger an, ob er sich auf öffentlichem oder privatem Raum befindet, ob sein Weg in einer Sackgasse enden wird oder nicht.

In Kooperation der Stadtverwaltung von Aleppo mit Entwicklungsprojekten, organisiert von der bundesdeutschen GTZ (“Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit”) und in Zusammenarbeit mit kleineren Finanziers wie etwa “Studiosus Reisen”, wurden bisher mehr als 10 Millionen Euro in das Projekt gesteckt, mit dessen Hilfe Aleppo an die glänzenden Zeiten seiner Vergangenheit anschließen will. Auf halbem Weg zwischen dem Euphrat und der Küste gelegen, war die Stadt ("Aleppo" ist eine venezianische Verballhornung von "Halab") früh zu einem Handelszentrum geworden, vor dem Bau des Suezkanals galt sie als Knotenpunkt der Routen zwischen Orient und Okzident, auch als Pilgerzentrum auf dem Weg nach Mekka.

Die relative Bedeutungslosigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war für die Altstadt ein Glück. Anderswo ruinierte das, was man unter “Fortschritt” subsummiert, die Stadtkerne, Aleppo kam zwar tief herunter, wurde aber nie überrollt. Viele Kulturdenkmäler stehen noch; unter anderem das berühmteste Badehaus Nordsyriens. In der mondänen Umkleidehalle des 400 Jahre alten “Hammam Yalbougha al Nasery” – Marmorkacheln, ein Opernluster, Musik von Zupfinstrumenten aus Lautsprechern – gibt man mit seinen Kleidern auch das Ego ab. Den Genitalbereich in ein gemustertes Geschirrtuch gehüllt, die Füße in Holz-Zorkeln, gerät man vom Kräuterdampfbad in die Hände eines syrischen Folterknechts, der einen 15 Minuten lang wäscht, und dabei bis in die Zwischenräume der Zehen vordringt. Nach dem Waschvorgang trinkt man in der dampfenden Halle des Hammam Tee, eingehüllt in weiße Tücher.

Wieder draußen, fühlt man sich wie neugeboren und hat frische Kraft für den Teppichsuq. Der junge Mann mit der Wasserpfeife, der noch immer schwört, dass Rapid Meister wird – und der neuerlich sein Seidentuch verkaufen will – ist auch wieder da und begrüßt einen überschwänglich. Die Grußkultur gehört nämlich zu den Aleppiner Ritualen. Sie haben ein eigenes Vokabular dafür. In Wahrheit, so geht die Legende, kann man sich auf Nordsyrisch minutenlang ausführlich und umständlich begrüßen. Notfalls kann man sich so lang grüßen, bis man die Nase voll hat.