Beijing – China

„Der Standard“, 6. August 2004


Martin Amanshauser war in Beijing nicht nur am Tienanmen. Er besuchte den Kunstdistrikt Dashanzi, wo abseits offizieller Doktrin ein nicht subventioniertes Kommunikationszentrum entstanden ist.

Kühlschrank statt Mundschutz

Der Tienanmen Platz ist eine heiße Betonfläche in der Größe von sechs Fußballfeldern, übersät mit bunten Punkten: Besucher und Postkartenverkäufer. Fünfzehn Jahre nach dem Massaker an der Studentenbewegung haben sich die Beijinger in den Alltag gefunden, und der Alltag 2004 besteht aus den bunten Fähnchen des Kapitalismus.

„Unter den Hügeln flattern unsere Flaggen und Banner“, schreib Mao Tse-Tung in einem seiner berühmten Gedichte, das stimmt auch heute noch. Jüngst wurde seine Mumie renoviert. Im Mausoleum (Maosoleum?), einem Flachbau im Süden des Tienanmen, liegen die sterblichen Reste des Großen Vorsitzenden neuerdings rundum erneuert hinter Glas. In der Totenhalle legt ein endloser Besucherstrom Blumenpakete ab, erstanden für wenige Yuan im Shop. Die Blumen werden, behaupten Skeptiker, am gleichen Tag in den Shop zurückgebracht und neu verkauft. Ein Gerücht? Angesichts von Maos tiefgelber Gesichtsfarbe behauptet man ja auch, hier liege längst eine wächserne Nachbildung. Aber nein, natürlich handle es sich, versichert ein Offizieller, um den Original-Mao. Wo wäre denn sonst der echte?

Das ist die Logik des neuen Chinas, in dem die wirtschaftliche Öffnung Staatsdoktrin wurde, in dem aber viele Dinge nicht sein dürfen. 1989, einige Monate vor dem Massaker, hatte die junge Experimentalkünstlerin Xiao Lu die Ereignisse vorweggenommen, indem sie Pistolenschüsse auf ihr eigenes Kunstwerk – zwei miteinander verbundene Telefonzellen, in denen zwei voneinander isolierte Menschen standen – abgab. Sie wurde verhaftet, die ratlosen Behörden schlossen die Ausstellung, öffneten sie wieder, enthafteten die Künstlerin, bevor sie die Ausstellung doch schlossen. Dann kam der 4. Juni.

Xiao Lus Nachfolger halten Distanz zum Schauplatz der Demokratiebewegung. Ihre Spielwiese liegt im nordöstlichen Vorort Dashanzi. Auf einem mit DDR-Geld aufgebauten Fabriksgebiet präsentieren an die dreißig freie Gruppen ihre Arbeiten – eine Avantgarde, die sich als Teil globaler Strömungen Bildender Kunst sieht. Davon zeugt „1st Beijing Dashanzi International Art Festival 2004“. Treibende Kraft ist die Fotogalerie „789 Space“, die Lofts und Produktionshallen mit Installationen, Bildern und Objekten füllt.

Am Gelände hat sich ein Nachtleben mit Cafés und Bars etabliert. „Wir sind ein nicht subventioniertes Kommunikationszentrum“, sagt ein Organisator mit dem Künstlernamen James, „die Behörden reden uns nichts drein. Wir werden ignoriert, und das ist gut so.“ Kontroversiellster Vertreter ist Liu Zheng mit seinen provokanten fotografischen Nachstellungen von Legenden und historischen Ereignissen. „Meine eigenen Fotos hab ich gar nicht aufgehängt“, erzählt James, „keine Zeit gehabt dafür. Aber es tut sich was. Allerdings ist Kunst bei uns noch immer Luxus.“

In Beijing tut sich wirklich was, auch wenn der große Boom der Nuller Jahre in Shanghai stattfindet. Hier in der Hauptstadt bedeutet Internationalisierung fortschreitende Individualisierung. „Jeder kauft sich jetzt ein Auto“, erzählt Chen Liang, Redakteur der englischsprachigen Zeitung „China Daily“, die vergleichsweise liberal agiert, jedoch in heiklen Punkten wie der Taiwan-Frage strikte Regierungslinie vertritt, „die Verstopfung wird schlimmer. Ich bin zu Fuß schneller im Büro als mit dem Wagen.“ Vier Jahre vor den Olympischen Spielen wird wieder einmal die traditionell rücksichtslose Sozialpolitik betrieben, heute in Form von Umsiedlung innerstädtischer Bewohner in Außenbezirke: „Viele alte Straßenzüge müssen dran glauben.“

Die Lifestylemagazine wenden sich entscheidenden Fragestellungen zu: „Bei einem Verdienst von 1 Million Yuan pro Jahr, welches Auto würden Sie kaufen?“ – 31% BMW, 12% Mercedes, 7% Ferrari. Für die coolsten Brands hält man Nike (31%), Sony (16%) und Coca Cola (9%), imagestärkste chinesische Marke ist bezeichnenderweise der Waschmaschinen- und Kühlschrankproduzent Haier (3%). Doch das Wirtschaftswunder durchleidet immer wieder Krisen, so 2004 die Vogelgrippe oder 2003 SARS.

Während dieser Perioden nationaler Unsicherheit kamen die in Asien verbreiteten Mundschutze in Mode. Heute will keiner mehr daran erinnert werden. Radfahrerinnen tragen über dem Gesicht Darth-Vader-ähnliche Plastikschilde mit Spiegelglas zum Runterklappen. Der Zugang zur jüngsten Geschichte ist ambivalent. „SARS war die beste Zeit meines Lebens“, meint Chen Liang, „wir durften wochenlang nicht ins Büro gehen, und ich brachte daheim all die Dinge in Ordnung, die sich über Jahre hinweg angehäuft hatten.“

Trotz und wegen fortschreitender Amerikanisierung gibt es noch die Stilblüten einer Pionierzeit, die bald Geschichte sein wird. „Garbabe“ steht auf Mistkübeln, „Gentil Emen“ vor Herrentoiletten und die Raubpressung von Pink Floyds Frühwerk „The final cut“ wird am Cover charmanterweise als „The final cat“ bezeichnet. Nach der Korrektur dieser Fehler, spätestens zu Olympia 2008, wird Beijing eine Millionenstadt unter vielen sein.

Die Tradition pflegt man wohl besser innerhalb von Institutionen wie dem „Quianmen Quanjude Roast Duck Restaurant“, das seit 1864 eine Peking-Ente serviert, deren knusprige Schnitten mit Hoisin Sauce und Jungzwiebeln in Omelette gesteckt werden. Arafat, Fidel Castro und Helmut Kohl haben die original „Beijing force-fed ducks“ gegessen. Zuvor hatten sie bestimmt einige der unveränderbaren Sehenswürdigkeiten bewundert, Himmelstempel, Sommerpalast, Verbotene Stadt, vielleicht auch die Große Mauer an ihrer schönen, einsamen Stelle bei Jinshanling, über die Mao Tse-Tung 1935, während des langen Marsches, schrieb: „Wenn wir die Große Mauer nicht erreichen, sind wir keine Männer / Wir, die wir zwanzigtausend Li durchmessen haben.“