Grado – Italien

„Der Standard“, Juni 2003


Auf der geblümten Luftmatratze

Jeder kennt Grado. Zum Beispiel haben sich Papa und Mama im Lagunenstädtchen an der nördlichen Adria kennengelernt. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren sind dort alle hingefahren. Es war der Beginn einer neuen Ära. Sie haben in Naturfreundebaracken gewohnt. Diese Baracken- und Zeltlager waren die ideale Partnerschaftsbörse. Es muss andererseits ziemlich unschön zum Baden gewesen sein. Papa, Mama und die anderen Jugendlichen marschierten kilometerlang den Schilfgürtel entlang. Das versumpfte Insel- und Halbinselgebiet mit seinen Wasser- und Zugvögeln, sehr romantisch. Überhaupt ist Grado wie Venedig, nur romantischer. Denn die venezianische Hochzeit gilt ja als erster Schritt ins totale Glück, ins total uninteressante ewige Glück. In Grado hingegen, dort heiratet man nicht.

Papa und Mama waren nie so exklusiv. Mit Zwanzig sind sie wieder nach Grado gefahren, Venedig für Arme hieß es damals. Sie haben in einer billigen Pension gewohnt. In der verwinkelten Innenstadt aßen sie Cozze in Weißweinsud, untertags befuhren sie die Lagune, dunkelblau und algig, mit rätselhaften basketballplatzgroßen Inseln. Die strohbedeckten Hütten drauf, eine pro Insel, nennt man Casoni. Beim Vorbeifahren träumen junge Paare, dereinst eine solche Casone zu besitzen. Träume machen glücklich, Besitz macht unruhig. Es muss jene Zeit gewesen sein, in der Papa und Mama ineinander verliebt waren.

Bald kamen wir, die Kinder. Es gibt die typischen Fotos von uns, auf der geblümten Luftmatratze oder mit einem Gelato von Gelati Motta. Mama und Papa hatten schon Stil. Sie fuhren nicht nach Lignano oder Jesolo, sie scheuten Venedig, nur Grado kam in Frage. Es mochte schwierig sein, am Kiosk den “Kurier” zu kriegen, aber Grado war ruhig und dörflich, die Tagliatelle waren heiß, die Innenstadt hatte diesen Flair von Trauben und Melonen, den man aus Hadschi Bradschi kannte, es gab echte Matrosen, und bis ins 21. Jahrhundert würde sich an all dem nichts ändern.

Papa, der alles genau wusste, erzählte, Grado sei immer ein Zufluchtsort gewesen. Die Bewohner der 12 Kilometer landeinwärts gelegenen Römerstadt Aquileia hatte sich während der Völkerwanderung hierhin zurückgezogen. Man versteckte sich vor Attila, dem alles niederwalzenden Hunnenkönig, und vor dem brandschatzenden Ostgoten Theoderich. An Grados flachen Sandstränden konnte kein Kriegsschiff anlegen, und auf der Innenseite waren die Sümpfe und die 12.000 Hektar große Lagune - ideal für kiellose Fischerboote. Nur die Einheimischen wussten, wo die Strömung natürliche Kanäle ausgebaggert hatte.

Den Hunnen widerstand man, den Sturmfluten ab dem 10. Jahrhundert nicht, Grado verlor graduell an Bedeutung. Die neue Ära begann als K&K Seebad, nachdem Friaul 1813 an Österreich gefallen war. Der Aufschwung begann mit Kurbädern für kranke Kinder, Land wurde durch Aufschüttung gewonnen, vornehme Hotels gebaut, ein Verbindungsdamm zum Festland errichtet. So trat Grado ins kollektive Bewusstsein Österreichs, so wurden die Naturfreundebaracken der Fünfziger Jahre möglich, so wurde aus Papa und Mama eine Wirtschaftseinheit, dadurch erst wurden wir möglich.

Papa und Mama fahren heute noch jeden August nach Grado. Sie wohnen nicht mehr in Barackenlagern oder Pensionen, sie gehen ins Hotel Savoy. Natürlich kennen sie den jungen Hoteldirektor persönlich. Er heißt Tom Sawyer oder so, das ist eigenartig, aber es passt. Vielleicht erinnert er sie an die Zeit am Schilfgürtel. Papa und Mama erzählen, selbst zu Ferragosto ist es angenehm ruhig im Städtchen. Manchmal fahren sie mit einem Mietwagen in den Collio, so nennt man die Weingegend im hügeligen Südfriaul. Papa sagt, er möchte eigentlich nur noch Wein von Felluga trinken.

Grado gehört zwar zu Friaul, erzählt Papa, doch die Bewohner fühlen sich nicht als Friulaner, ihr Dialekt ist fast Venezianisch. Vermutlich sprechen Papa und Mama diesen Dialekt auch schon. Wahrscheinlich eher Mama, die ist für Sprache zuständig. Grado, erzählen sie ihren Freunden, wird von Jahr zu Jahr schöner. Neulich haben sich Papa und Mama beklagt. Zu viele junge Leute im Hotel Savoy. Und die ganzen Sportgeräte! Früher habe eine Badehose genügt. Sie sagen, da beginnt eine neue Ära, und der Tonfall in ihren Stimmen ist komisch. Eine neue Ära. Das macht sie nachdenklich.


Hotel Savoy, Via Carducci 33, I-34073 Grado, www.hotelsavoy-grado.it. Inhaber: Familie Soyer.

Weingut Felluga, Via Risorgimento, 1, Fraz. Brazzano, I-34071 Cormons.