Island

„Der Standard“, 19. Mai 2006


Es ist doch nur ein Segafredo

Keine Reise verbessert bei Freunden und Bekannten das Image so sehr wie eine nach Island. Du Beneidenswerter! Alle lieben Island, obwohl es kaum jemand kennt. „Genieß die Geologie!“, schrieb mir eine Freundin (Geologin), und mindestens vier Leute sagten, ich solle „Björk grüßen“. Einer fügte hinzu: „Sie ist Gott.“

Als Roman wurde mir „101 Reykjavík“ von Hallgrímur Helgason empfohlen, über einen 30-jährigen Nichtstuer, der den Postleitzahlenbereich „101“ nie verlässt und die lesbische Freundin der Mutter schwängert, welche im Kino von Victoria Abril gespielt wird. Ich besorge ich mir die Mailadresse des Autors. „Let´s meet at Café Segafredo on the central square Lækjatorg”, schreibt Hallgrímur.

Reykjavík, 150.000-Einwohner-Stadt auf einer Insel in der Größe der früheren DDR: Klarer Himmel, bunte Häuschen in Deckfarben, finnische Kleinstadt-Atmosphäre. Niemand hier sieht aus wie Björk. Isländer sind Nachkommen skandinavischer Seefahrer, die vor 1100 Jahren die Insel besiedelten – welche zuerst unter norwegischer, bis 1944 unter dänischer Vorherrschaft stand.

Im Café Segafredo am Lækjatorg wartet ein breitschultriger Mann mit einem Hut über der polierten Glatze: Hallgrímur Helgason. Er erzählt, sein Name würde „Steinerne Maske“ bedeuten. Sein bewegliches Mienenspiel scheint gegen seinen Namen anzukämpfen. Der 46-jährige lebte in Paris, München und New York, kehrte aber vor zehn Jahren zurück: „Eines Tages las ich in einer Zeitschrift, Reykjavík sei die trendigste Stadt der Welt. Und ich dachte, was tue ich hier in Paris?“

Helgason filettiert in seinen Romanen und Essays die isländische Seele – und die der Touristen. „Die Natur in Island ist in Ordnung, das Problem ist nur, dass man in Island nicht draußen bleiben kann – es ist viel zu kalt. Wir Isländer haben uns damit abgefunden, die Natur durch Glas zu betrachten: Durch Wohnzimmerfenster, Windschutzscheiben oder Bildschirme.“ Wenn Isländer an Naturtouristen vorbeifahren, versuchen sie „immer Pützen zu erwischen, um sie zu bespritzen“. Kaum ein Isländer sei je im Hochland gewesen, man höre jedoch andauernd, jemand wolle „diesen Sommer hinfahren“, weil er es „im letzten Jahr nicht geschafft“ habe.

Nach einer Stunde lasse ich Helgason ziehen und bereite mich auf den Freitagabend vor: die lange Nacht, in der wöchentlich der „Runtur“ stattfindet, eine allumfassende, wilde Rund-Tour durch sämtliche Bars und Pubs der Stadt. Ich frage überall herum, doch keiner kann mir erklären, wieso sie dafür nicht den Samstag nehmen.

Die „Kaffibarinn“ quillt ab Mitternacht über – die Kneipe wurde durch Helgasons Roman und den Film berühmt. Später erinnere ich mich vage an Freundschaften, die ich in der Kaffibarinn schloss. „Am Freitag ist Runtur, weil wir am Samstag zu kaputt sind dafür“, nach diesem Satz klopft mir jemand krachend auf die Schulter. Später erläutert jemand, Hallgrímur würde wie Hattl-Grimma ausgesprochen. Mir gefällt, gröle ich zurück, das Buch trotzdem, der Autor möge heißen, wie er wolle, Hattl-Grimma oder Grattl-Himma.

Um meine Laune zu heben, verlasse ich das 101 Reykjavík – fünfzig Kilometer weiter, beim Flughafen Keflavík, befindet sich eine Hauptattraktion, die „Blaue Lagune“. Milchtürkises Wasser inmitten eines Feldes schwarzer Lavabrocken, Dampfwolken steigen auf, wo Wasser aus dem Erdinneren gepumpt wird. Durchschnittstemperatur: 38 Grad – Fieber. Der Hauptreiz besteht darin, dass sich die Wasserströmungen schlecht mischen. Sie umfließen den Körper teils brennend heiß, teils kühl, jede Armbewegung überrascht.

Mein nächster Gesprächspartner ist Kristján vom Verlagshaus Edda. Wo sollen wir uns treffen? „Eins meiner Lieblingslokale“, sagt er, „wäre das Segafredo am Lækjatorg!“ Okay, kenne ich schon.

Er sagt nicht, was am Segafredo so toll ist, aber Kristján erklärt mir das moderne Island: An der Grenze zwischen Amerika und Europa (auch geologisch, denn quer durch die Insel verläuft das Rift der Platten) denkt man international. Die starke Währung gefährde den Tourismus. EU-Beitritt unmöglich, weil Island gut auf seine Fischfanggebiete geachtet hat und sie jetzt nicht mit gierigen Briten, Spaniern und Portugiesen teilen möchte. Das Erstaunlichste ist die Isländische Buchkultur: Bücher sind das einzige legitime Weihnachtsgeschenk, Autoren wie Helgason erreichen Auflagen bis zu 10.000 Stück – in einem Land, das weniger Einwohner hat als Graz und Umgebung!

Von Reykjavík per Tagesausflug erreicht man „den Geysir“, den Urvater und Namensgeber aller Geysire. Er ist altersschwach. Die Leute haben Zeug in seinen Schlund geworfen, um immer höhere Fontänen zu produzieren, bis er nicht mehr mitspielte. Daneben bricht der kleine, extrem verlässliche Geysir „Strokkur“ alle 6 Minuten aus. Er gurgelt wie ein Würgeopfer, weiße Gischt ejakuliert, ein Nebelschleier, dann legt sich der Dampf, und die nächste Runde wird vorbereitet. Ich erinnere mich, dass ich ahnungslosen Freunden versprochen habe, „in Geysiren zu baden“, aber ein Schild warnt, das Wasser habe 100 Grad. Vielleicht werde ich das daheim anders erzählen. 50 Grad, ginge das?

Ein paar Kilometer weiter das nächste Naturschauspiel: Gullfoss, der größte Wasserfall der Insel. Wasser donnert wie mit dem Presslufthammer in eine Schlucht, am Himmel spiegeln sich Regenbogen, Gischt spritzt grellweiß, wie die Gletscher auf den Bergen im Hintergrund. Gullfoss durchnässt seine Besucher. Hier fehlt mir die Kleidung von „66° North“, seit über 70 Jahren Islands Pionier-Designer für wetterfeste Ausrüstung. „Wir profitieren“, sagt der Slogan unverhohlen, „vom isländischen Wetter mit seinem Regen, Schnee, Frost, Wind und den Blizzards, um die Qualitätskleidung zu testen.“

Glücklich zurück in 101 Reykjavík besuche ich die „Apótek“, bestes Lokal der Stadt. Früher war der Laden eine Apotheke, an der Wand stehen die Besitzer, von Bjarni Pálsson (1760) bis Sigurđur Olafsson (1962) und Háskóli Íslands (1982). Erstaunt frage ich die Kellnerin, wieso der letzte Besitzer so heißt. Nein, damit sei die Universität Islands gemeint. Das eigentliche Rätsel der Apótek findet sich auf den Toiletten. Dort hängen Schilder, die ich, sprachunkundig, so übersetzen würde: „Meine Herren! Da die Decke nur 1,80m hoch ist, bittet die Restaurantleitung Sie, beim Urinieren einen Buckel zu machen!“ Übersetzung ohne Gewähr. Das einzige, was ich wirklich verstand, war „1,80“.

Die isländische Sprache ist schwerer zu lernen als Schwedisch oder Norwegisch, erklärt mir Helmut Lugmayr, Niederösterreicher, der seit 14 Jahren in Reykjavík als Übersetzer arbeitet. Sie leitet sich aus dem mittelalterlichen Altnordisch her, das sich in der Abgeschiedenheit konserviert hat. Die Grammatik: ungeschliffen, verzwickt. Wir sitzen im Segafredo am Lækjatorg, auch Helmut scheint es hier zu gefallen.

Draußen Sonne, aber gleichzeitig schneit es. „In Island hat Wetter einen anderen Stellenwert“, meint Helmut mit einem skeptischen Blick ins Freie. „Im Vokabular der Kontinentaleuropäer kommt der Terminus ERFRIEREN ja gar nicht vor. Aber wir haben hier immer ein Ohr am Wetterbericht, weil Wetter etwas Ernstes ist. Ein Schneesturm im Hochland – kein Spaß.“ Ich lehne mich zurück. Wieso treffen mich alle immer hier? Es ist doch nur ein Segafredo!

Darf ich mit der Kreditkarte zahlen? Die Kellnerin lacht. Helmut lacht. Es sei nämlich so, dass alle Isländer immer mit der Karte zahlen, auch ganz kleine Beträge. „Und“, flüstert mir Helmut zu, „gib kein Trinkgeld.“ Nein? „Nein“, flüstert er, „nur Touristen tun sowas.“

Auf dem Rückweg ins Hotel stöbere ich in Buchhandlungen. Von Thomas Bernhard „Steinsteypa“ – das muss wohl „Beton“ sein. Hattl-Grimma hat einen Roman über den einzigen isländischen Literatur-Nobelpreisträger Halldór Laxness geschrieben. „Der Dichter Islands“ heißt das Buch auf Isländisch, aber auf Deutsch „Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“.

Jetzt fehlt mir noch Hákarl. Man spricht das „Haukarl“ aus – ein Haifisch, der 6 Monate im Sand eingegraben lag und nun verfault sei. Auf dem Flohmarkt „Kolaportiđ“ verschaffe ich mir das Fäulnisprodukt. Der erste Bissen schmeckt salzig, beim Nachgeschmack erstarre ich. Aluminium mit Leichenteilen! Ich spucke aus. Versuche einen zweiten Bissen. Spucke wieder aus. Der „Haukarl“: das erste Ethno-Essen, an dem ich echt scheitere! Muss mir überlegen, ob ich das jemandem erzählen kann. Ich gehe zum Würstelstand und esse einen Pylsur „with everything“ – so gut hat selten zuvor ein Hot Dog geschmeckt!

Meine letzte Gesprächspartnerin wird Bryndis Guđnadottir sein, Sales Managerin einer Hotelkette. Sie fragt mich am Telefon, wo wir uns treffen sollen. Kennen Sie Café Segafredo, am Lækjatorg?, frage ich. „Ooooh, wunderbar!“, ruft Bryndis. „Das ist eine tolle Idee!“



Der Autor flog mit Icelandair und wohnte im Hotel Nordica, Flagship von www.icehotels.is, die 24 Hotels auf der Insel anbieten, +354 444 4000.

Studiosus Reisen bietet Islandreisen, Riesstraße 25, D-80992 München, +49/8950060-0, info@studiosus.de, www.studiosus.de.

Literatur:

Hallgrímur Helgason, „101 Reykjavík“, Roman, Klett Cotta und „Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“, Roman, Klett Cotta. Helgason-Zitat aus dem Essay „Die Reise nach Island“, erschienen in „Gap“, Nr. 061 (Sommer 2005), übersetzt von Jon B. Atlason.

Kaffibarinn, Bergstađastræti 1; Café Segafredo, am Lækjatorg; Apótek, Austurstræti 16

66° North, Flagship Store, Lækjatorg 4, www.66north.is