Jordanien


„Der Standard“, 12. Dezember 2003

Wie eine Boje schwimmen, wie am Mond paddeln. Martin Amanshauser war in Jordanien am Roten Meer und am Toten Meer. Er glaubt nun zu wissen, wie sich Neil Armstrong am Mond gefühlt hätte, wenn er in ein dortiges Swimming Pool gestiegen wäre.


Salzige Lippen am Mond

Das Tote Meer kennt man aus dem Geographiebuch/Unterstufe. Da gibt es ein Foto von einer Dame, die rückenschwimmend in eben diesem Geographiebuch schmökert. Sie trägt einen blauen Badeanzug. Generationen von Schülern fragen sich seit den Siebziger Jahren, welche Seite im Geographiebuch die Dame wohl betrachtet? Eventuell die mit ihrem eigenen Foto? Falls ja, wie zum Teufel soll das funktionieren? Fazit: Irgendwas stimmt nicht mit dem Toten Meer.

30 Prozent Salzgehalt. Kein Fisch im Wasser, keine Pflanze, kein organisches Leben. Nicht einmal einen Abfluss hat das vom Flusse Jordan gespeiste Meer, das in Wirklichkeit gar kein Meer ist, sondern der größte und eigenartigste Salzsee der Welt, brüderlich halbiert zwischen Jordanien und Israel. Mit seinen tausend Quadratkilometern bedeckt er die vierfache Fläche des Neusiedler Sees. Zusätzliche Parallele: Man kann nicht so recht kentern. Alles fließt? Keine Spur! Alles schwimmt und treibt.

Viele sagen: Allein schon das Gefühl, einmal im Leben im Toten Meer unterzutauchen – oder eben gerade nicht unterzutauchen – lohnt den Flug nach Jordanien, dem buntesten Land im Nahen Osten. Nicht nur aus gesundheitlichen Gründen - im Salzsee sind mehr als 40 Milliarden Tonnen Mineralien gelöst, man gewinnt antiseptische Mineralsalze, Magnesium, Kalzium, Brom, Kalium, Schwefel. Da nur reines Wasser verdunstet, bleiben alle Mineralien aus den Zuflüssen erhalten. Am Sandstrand findet man wilde Matschgruben, Liebespaare beschmieren einander mit dem klassisch schwarzen Schlamm, der sich im Salzwasser wunderbar löst. Sonnenöl braucht keiner. In der tiefsten Depression der Erde (minus vierhundert Meter im Vergleich zum Meeresspiegel) werden die schädlichen UVB-Strahlen von dem durch die hohe Verdunstung chronisch über dem See liegenden Dunstschleier gefiltert.

Als Original Dead-Sea-Experience gilt der Initiationsschritt in die warme salzige Flut, meistens begleitet von einem verblüfften Freudenschrei. Zwei oder drei Schwimmbewegungen im fremden Element, dann hat man begriffen, das hier ist wie das Echo einer Reise zum Mond. Der Erstschwimmer denkt in etwa folgendes: “So hätte sich wohl Neil Armstrong gefühlt, wenn er auf dem Mond in ein Swimming Pool gestiegen wäre.” Nur, dass man am kahlen Trabanten keine salzigen Lippen kriegen würde. Wasserschlucken ist übrigens tabu: In der vorliegenden Konzentration schmeckt es nicht mehr wie Salz, sondern wie bittere verdorbene Nüsse, die direkt aus der Hölle kommen.

Auf der Wasseroberfläche schaukelt die Mehrzahl der Objekte bojenhaft, auch der eigene Oberkörper. Warum wohl ist die Dame im Geographiebuch rückengeschwommen? Weil sonst das Geographiebuch nass geworden wäre? Weit gefehlt! Schwimmen funktioniert einfach nur am Rücken. Brustschwimmen im Toten Meer, das probiert man kein zweites Mal. Es sieht bescheuert aus, und es klappt technisch nicht. Die Knie knicken nach oben, der Schwimmer paddelt wie eine Meeresschildkröte am Trockenen. Merksatz: Der eigene Schwerpunkt liegt nicht immer dort, wo der Mensch selbst ihn vermutet.

Jordanien ist nicht nur das Land, in dem der in Film und Literatur überschätzte Lawrence von Arabien aus Übermut versehentlich sein Kamel erschoss. Neben der bizarren Wüste Wadi Rum, der spektakulären Nabatäer-Felsenstadt Petra und den Ruinen von Jarash (Gerasa) sind die Wasserflächen das aufregende Erlebnis des Landes. Besagtes Totes Meer erreicht man von der quirligen Hauptstadt Amman (1,3 Millionen Einwohner, einst als Philadelphia bekannt geworden) in einstündiger Fahrt durch eine Basaltlandschaft, und dabei kommt man an kuriosen Orten wie der Taufstelle Jesu vorbei.

Hier in Bethanien grenzen zwei Welten aneinander – Israel und Jordanien. Auf jordanischer Seite betritt man eine hölzerne Aussichtsplattform direkt am Fluss. Der Jordan ist an dieser Stelle seines Unterlaufes etwa doppelt so breit wie der Salzburger Almkanal. Knapp drei Meter entfernt befindet sich, friedlich, Staatsgebiet von Israel, nach jordanischer Lesart “occupied palestine”. Einige Kilometer dahinter liegt die älteste Stadt der Welt: Jericho. Und von den Felshügeln auf der anderen Seite des großen Salzsees blinken abends die Lichter Jerusalems.

Irgendwo hier in der Gegend befindet sich quasi die Hälfte aller Schauplätze, die man aus der Bibel kennt. Nicht nur der Moses-Berg Nebo. Zum Beispiel auch die Städte Zeboiim und Zoar. In Zoar haben Lot und seine Töchter Unterschlupf gesucht, nach der Zerstörung Sodoms durch den cholerischen Gott (Buch Genesis). Irgendwo hier hat sich die Frau von Lot beim Verlassen Sodoms umgedreht – und erstarrte zur Salzsäule. Heute noch sieht man Salzsäulen in der Landschaft stehen, heute noch heißt das Tote Meer auf arabisch “Bahr Lut”, also Meer des Lot. Und neugierige Forscher tauchen per künstlich beschwertem U-Boot in die salzverkrustete Unterwasserwelt, um die historischen Orte Sodom und Gomorrah vielleicht doch am Seegrund zu entdecken.

Die Wasserknappheit des Toten Meeres (die Anrainerstaaten entnehmen zur Landbewässerung enorme Wassermengen) hat zu Prognosen geführt, wonach der Salzsee mit seiner mittleren Tiefe von zwanzig Metern im Jahr 2050 ausgetrocknet sein wird. Deshalb gibt es Projekte, um das Absinken des Wasserspiegels von etwa einem Meter pro Jahr zu stoppen. Eines davon sieht vor, Wasser vom Roten Meer per Kanalröhre ins Tote Meer zu schaffen. Theoretisch wäre das möglich, praktisch ist die Frage ungelöst, wie sich die beiden Salzwasserarten zueinander verhalten würden. Einige Wissenschaftler meinen, sie würden sich überhaupt nicht vermischen, andere befürchten, die Farbe des Binnensees könne von hellblau zu milchweiß oder gar rosa kippen.

Das Rote Meer ist die zweite nasse Attraktion Jordaniens, der einzige Zugang zu den Weltmeeren, ebenfalls ziemlich salzig, ein Schwimm- und Tauchparadies am schmalen Küstenstreifen rund um die Stadt Aqaba (50.000 Einwohner). Das Haschemitische Königreich, ein vergleichsweise junges Gebilde von der Größe Österreichs (Einwohnerzahl: 5 Millionen), besitzt keine weltberühmten Bazare wie der große Bruder Syrien. Aber Aqaba an der Südspitze ist eine vitale Kleinstadt mit Charme.

Im Marktviertel herrscht eine eigene Art von Humor, geschult am westlichen Besucher und tendenziell selbstironisch: “We do our best to be friendly”, grinst Fadel Al-Baba, Chef des Gewürzgeschäfts Al-Baba Spices und lässt eine Kunstpause, bevor er mit äußerster Befriedigung hinzufügt: “But we are not so friendly.” Wunderbaren Malventee gibts bei Fadel gratis, keinerlei Schleimerei ist ebenso kostenlos dabei. Wirklich berühmt sind aber seine Thymian-Sesam-Mischungen, und der Kaffee.

Amerikanische Tauch-Freaks geben ihrer Begeisterung Ausdruck, dass hier die Tauchgänge direkt an der Küste stattfinden können, ohne Bootsfahrt zu einem Basisschiff, und ungarische Pauschaltouristen lassen sich beim Friseur gegenüber für ein paar jordanische Dinar die Haare schneiden. Seit sie in derartigen Massen auftauchen, dass die Aufschriften in Geschäften und Toilettanlagen Arabisch/Ungarisch sind, wurden die Gäste aus dem noch näheren Osten im Nahen Osten zum Thema. „Sie feilschen am Markt“, beschwert sich einer der Händler. „Aber zumindest ist jetzt mehr los“, sagt ein anderer.

Die Bucht des Roten Meers teilt Jordanien sich mit Israel, Ägypten und Saudi-Arabien, und trotzdem signalisiert die tiefblaue Fläche nichts als absoluten Frieden an den Korallenriffs. Wie Zungen strecken sich die schmalen Meereszugänge Jordaniens und Israels dem Roten Meer entgegen: Aqaba und Eilat. Romantisch kann es am Frühabend auf Aqabas Pier werden. Nicht zu vergessen: Im Hintergrund singt der in jedem Arabien-Reiseartikel vorkommen müssende Muezzin. Man zählt die Schiffchen in der Bucht, trinkt Lipton Tea von Superior Quality, Straßenhändler verkaufen auf Plastiktellern Lupinenkerne und Foul mit Curry. Naja, und ein paar Kinder betteln einem schließlich den Plastikteller ab, um ihn in hohem Bogen ins Wasser zu werfen. Auch gut.

Irgendwann ist die Sonne ganz untergegangen, und die Lichter der Hochhäuser der nebenan hinter der Grenze liegenden Stadt Eilat flackern durch ein ganz anderes Leben ... oder doch durchs gleiche? Der Mond, dem man aus dieser Perspektive überhaupt keine Swimming Pools zutraut (höchstens, jene der Strandhotels spiegelten sich in ihm), ist ein gelbweißer Beistrich. Entschlossen beleuchtet er die Bucht.