Kerala – Indien

„Der Standard“, 8. Juni 2001

Kokos, Chaos und Kanäle

Kerala, “God´s Own Conuntry”, bietet wenig Hindutempel, kaum Nachtleben, viel Muße und drei Attraktionen: Kommunismus, Küche, Kokospalme.

1988 verwendete dem indischen Werbetexter Walter Mendis jener Slogan, der inzwischen unverrückbar mit dem Tourismus in Kerala verbunden ist: “God´s Own Country.” Der westindische Bundesstaat, ein tropischer Streifen zwischen Arabischem Meer und Western Ghats von der Hälfte der Fläche Österreichs, hat tatsächlich etwas von einem Gottesland: er kann sich der wohl beeindruckendsten Palmenkonzentration Asiens rühmen und besitzt zudem rund 500 Kilometer an der Malabarküste und 44 Flüsse, die sich in einem einzigartigen System von Backwaters verlieren - insgesamt 900 Kilometer Wasserwege.

Nicht erst seit Kerala vom National Geographic Traveler gemeinsam mit Venedig, der Chinesischen Mauer und Rio de Janeiro zu den “50 places of a lifetime” gezählt wird, oder seit Travel & Leisure das keralische Frühstück als “bestes der Welt” bezeichnete, wird die Region im internationalen Tourismus ganz groß gespielt. Längst wurde die klassische indische Westküstendestination, Goa, bei finanzkräftigen Individualreisenden an Zugkraft überrundet. Backwatertrips im Hausboot, Rundum-Erneuerung und Verjüngerungskur nach ayurvedischen Prinzipien, Kurse in Kalarippayat, der Mutter aller Kampfsportarten, und Aufführungen des klassischen Kathakali-Theaters - vor allem aber die legendäre Ruhe - ziehen immer mehr Urlauber an. Der indische Premier Atal Bihari Vajpayee verbringt hier seine Ferien, ebenso wie Richard Gere, Jacques Lang oder Richard von Weizsäcker. Auch die Queen war schon da.

Bekannt sind die Bewohner von Kerala für ihr freundliches Kopfschütteln. Das für Fremde oft verwirrende indische Wiegen des Kopfes - Zeichen für JA - wird im Kokosparadies (nicht nur Paradies: jährlich werden hier mehr Menschen von stürzenden Kokosnüssen getroffen als von Malariamücken infiziert) zur Perfektion getrieben. Auf den westlichen Besucher macht der Gesprächspartner mit der geschmeidigen Halsmuskulatur, der seine uneingeschränkte Zustimmung zum Ausdruck bringen möchte, einen grausam unentschlossenen Eindruck. Scheiternde Kommunikation ist aber ohnehin ein Lichtblick des Exotischen in jenem Land, in dem grundsätzlich immer doppelt so viel funktioniert wie der Reiseführer androht.

Dabei gibt es wenig außergewöhnliche Hindutempel in Kerala, und, noch schlimmer, überhaupt kein Nachtleben: teure Alkohollizenzen verhindern eine westliche Abendgestaltung außerhalb der Hotels und ewig schummrigen Bars, an deren Eingang überdimensionierte Schilder in drei Sprachen angebracht sind: “Alcohol consumption is injurious to health.” Aber wegen dem Kingfisher-Bier kommt keiner nach Indien. Dann schon eher wegen jenem charmanten Flair der Fremde, das den Reisenden auf dem Subkontinent in allen vorstellbaren Varianten durchdringt - und sich besonders verwirrend und brutal im Straßenverkehr manifestiert.

Die Hauptstadt mit dem eigenwilligen Namen Thiruvananthapuram, nach britischer Lesart auch als Trivandrum bekannt, ein brodelndes Durcheinander von geschätzten 1,2 Millionen Einwohnern, liegt beinahe am Südzipfel Indiens und gibt einen Eindruck davon, was Moloche wie Bombay oder Calcutta ausmacht. Mit ihrem interessanten Fort gilt die Metropole vergleichsweise als beschaulich - wenn nicht gerade eine Demonstration mit roten Fahnen die MG Road (Bezeichnung für alle Mahatma-Gandhi-Straßen Indiens im Volksmund) lahmlegt. Trotzdem hält man den Verkehr zunächst für lebensgefährlich.

Natürlich ist er wirklich lebensgefährlich. Doch er gehorcht den Regeln der Nächstenliebe: ein wildes, britisch-linksseitiges Chaos aus dreirädrigen Autorikschas, klapprigen Zweirädern und Bussen ohne Reifenprofil, die wie Raketen am PC aneinander vorbeizischen. Halb so wild: In letzter Konsequenz ist jeder Verkehrsteilnehmer bereit, jedes Manöver seines Kollegen zu unterstützen, sei es noch so hirnrissig. Der Hindu glaubt an die Wiedergeburt.

Abgesehen vom Verkehrssektor ist im indischen Südwesten die Lebensorganisation ganz unindisch: intaktes Gesundheitssystem, wenig Elend bei niedrigen, aber stabilen Löhnen. Die Kommunistische CPI(M) – das (M) steht für die marxistische Abspaltung von der CPI – ist seit 1957 mit kurzen Unterbrechungen und wechselnden Koalitionspartnern an der Macht. Schöpfung des legendären E.M.S. Namboodiripad (1909-1998), ist die CPI(M) weltweit die einzige demokratisch legitimierte kommunistische Partei in Regierungsverantwortung. Kein Wunder, war doch diese Ecke Indiens gesellschaftlich immer eigenwillig – so war Kerala einst berühmt für sein matrilineares System, das sogenannte “Marumakkathayam”, bei dem die Frau den Grundbesitz weitergibt.

Gegründet 1956 aus den Provinzen Travancore, Cochin und Malabar, ist Kerala mit seinen 30 Millionen Einwohnern der bevölkerungsdichteste Bundesstaat Indiens. Das Zusammenleben zwischen Hindus (60%) bzw. Moslems und Christen (je 20%) verläuft vergleichsweise reibungslos. Hauptsprache ist Malayalam, tamilisch und sanskrit-beeinflusst, 90 Buchstaben; in der Schule werden aber auch Hindi und Englisch unterrichtet. Exportiert werden Trockenfisch, Reis und Cashewnüsse, Lebenselixier der Malabarküste ist jedoch, in allen Verarbeitungsstufen, die Kokosnuss.

Manche meinen ohnehin, der Begriff “Kerala” leitet sich von “Kera” ab, der Bezeichnung für Kokosnuss. Jedenfalls befindet sich hier mehr als die Hälfte der indischen Kokosproduktion. Die “Nuss”, oder besser einer der größten Samen der Erde, wird vollständig verwertet, von Kokosmilch über Kopra (Ausgangsmaterial für Kokosfett) bis zu den Kokosfasern. Der Palmenstamm liefert Nutzholz für den Hausbau, die zähen Blätter dienen der Seilproduktion. Vor allem aber bildet Kokos die Basis für die gefeierte Kerala-Küche.

Gekocht wird scharf und doch zart, tamilisch und doch indisch, spektakuläre Veg- und Non-Veg-Gerichte auf Reisbasis mit Kokosmilch: Sambhar (Dhal-Linsen in vegetarischer Sauce), Avial (Kokosnuss mit Früchten oder Gemüse), Kaalen (Joghurt, Bananen und Chili), oft unter Beigabe dunkelgrüner Karivepilla-Blätter (“Curry leaves”), Ingwer, Zitronengras, Muskatnuss und Tamarinde - dazu die Brotsorten Chapathi, Naan oder Paratha. Man isst dreimal täglich, denn Kerala pflegt die hohe Kunst des Frühstücks: Aappam, Uppuma, Puttu und alle Arten von Idlis und Dosas (Spezialität: Masala Dosa), teils omelettartig, teils knödelverwandt, serviert mit scharfen und milden Saucen. Wen pikante Morgennnahrung abschreckt, der lässt sich einfach Toastbrot servieren, das allerdings von einer anderswo längst entschwundenen Qualität.

Doch muss den vergleichsweise in jedem Fall superreichen Westler angesichts möglicher Genüsse kein schlechtes Gewissen plagen - die Gewerkschaften legen sich mit allem und jeden an (berüchtigt die mächtige Gewerkschaft der Bidi-Zigaretten-Roller) und haben bisher das Eindringen der Multis erfolgreich verhindert. Eine Tatsache die zwar, wie politische Gegner der CPI(M) nicht müde werden zu behaupten, das Lohnniveau niedrig hält, die aber nichts anderes als Arbeitsplatz-Sicherheit für den Einzelnen bedeutet: Wichtig in einer Zeit, da einzelne Grundbesitzer mit dem Gedanken spielen, zur Kokosernte abgerichtete Affen aus Malaysia ins Land zu holen - Gefahr für den Berufsstand der Pflücker.

Die meisten Urlauber jetten achtlos durch Thiruvananthapuram, geradewegs zu jenem Ort, vor dem jeder Reiseführer warnt. Vor dreißig Jahren gemeinsam mit den südgoanischen Stränden eine der ersten Hippie-Enklaven, wurde Kovalam (auch: “Kovalam Beach”) in den mittleren Neunzigern von den Freaks verlassen und wandelte sich in ein Pauschalreisen-Ziel. Heute hat das autofreie Fischerdorf mit seinem Leuchtturm über drei Traumbuchten den Massenandrang hinter sich und ist zu einem relaxten Tourismus-Museum mutiert.

Auf den Plastiktüchern der Präsentiertische, vor den Strandlokalen, liegt vom Hai bis zum Lobster jedes erdenkliche Seafood, die “German Bakery” bietet Apfelstrudel mit Meeresblick an, und in der Bucht ziehen die Fischer gemeinsam am Seil, bis wie bei einem grausamen Tug-of-war ein massiver Kingfish aus dem Wasser gezogen wird - bei striktem Fotografierverbot. Daneben verkaufen Händler die obligaten Tücher, Fresh Papayas und selbstironische T-Shirts mit der Aufschrift: “No Rikshaw No Hashish No change money No one rupee No Visit my shop.”

Dem ruhesuchenden Keralareisenden genügen wenige Tage in Kovalam Beach. Etwa fünfzig Kilometer nördlich, am Ashtamudi-See, beginnen die Backwaters, ein phantastisches Netz von Kanälen, Lagunen und brackigen Teichen, die beliebtesten von ihnen zwischen den Provinzstädten Kollam/Quilon, Kottayam und Alappuzha/Alleppey. Durch die grüngelb glänzenden Gewässer (hier spielt “Der Gott der kleinen Dinge” von Booker-Preis-Gewinnerin Arundhati Roy, ein dichter und provokanter Roman über Liebe und Sexualität jenseits von Kastenschranken), nur wenige Kilometer hinter der Küste paddeln Reiskähne, Flöße aus Schilfrohr und motorisierte Schlangenboote. Die Backwaters gelten mittlerweile auch als Oase des Luxustourismus. Wer sich jedoch kein Hausboot samt Kapitän, Crew und persönlichem Koch leisten möchte (ab ca. ÖS 2.000.- pro Nacht), kann seinen Weg mit einer der regulären Passagierfähren machen, oder einen 8-Stunden-Trip zwischen Palmen und Lehmhäusern buchen - inklusive Zwischenstopp mit original keralischem Lunch, einem Thali auf echtem Bananenblatt, garantiert ohne Messer und Gabel.

In Taxireichweite von Alleppey befindet sich jene Doppelstadt, in der sich die Geschichte der Malabarküste am buntesten spiegelt: Ernakulam und Kochi (ehemals Cochin). Im Naturhafen Kochi gingen schon die alten Griechen, Römer und Araber an Land. Irgendwann (vielleicht schon zu König Salomos Zeiten) kamen einige Juden. Und so überdauert im Stadtteil Matancherry die erstaunliche jüdische Gemeinde, die nach einer Israel-Emigrationswelle Mitte der Fünfziger Jahre heute kaum 20 Mitglieder umfasst. Die Synagoge, 1568 gebaut, von den Portugiesen zerstört und 1664 neu errichtet, ist einzigartiges Monument für die Widerstandsfähigkeit einer alten Kultur. Neben dem “Holländerpalast” Matancherry beginnt die schmale, lautstarke Gewürzstraße der Judenstadt, der Salman Rushdie in seinem “Des Mauren letzter Seufzer” mit einer fulminanten Sexszene auf den Pfeffersäcken ein Denkmal gesetzt hat.

Vasco da Gama war 1498 in Calicut/Kozhikode gelandet und hatte Indien ein Stück näher zu Europa gebracht. Bald wurde Fort Kochi zum Hauptumschlagplatz des Gewürzhandels. Heute leben im Großraum Kochi-Ernakulam über eine halbe Million Menschen. Die Halbinsel Kochi, per Fähre erreichbar, ist mit ihren Tempeln, Kirchen und weitläufigen Straßenanlagen das Relikt einer Ex-Kolonialstadt. Bei den “Chinesischen Fischernetzen”, abenteuerlich kranartigen Holzkonstrukten, mit deren Hilfe küstennahe Pomfrets ins Netz gelockt werden, wobei die Krähen ihren Anteil rauben, herrscht ein wildes Treiben von Ansichtskarten-Businessmen, Rikschamännern und Fischverkäufern. Hier kann der Besucher den frischen Fang erwerben und direkt in einem der gegenüberliegenden Restaurants auf den Grill legen lassen - Motto: “You buy - we cook”.

Unter den Sonnenschirmen sitzt man dann bei Calamari mit gesalzenem oder gezuckertem Lime-Soda, mit der Gewissheit, dass Kerala eigentlich ein ganz normaler Ort dieser Welt ist. Drei Attraktionen hat das indische “God´s own Country” aber sicher: Kommunismus, Kerala-Küche, und sehr viel Kokos.


Literatur:

Arundhati Roy, Der Gott der kleinen Dinge, 1997.

Salman Rushdie, Des Mauren letzter Seufzer, 1995.