Lissabon – Bario Alto

 "Die Presse" 2008

Ende einer stolzen Isolation

 

Lissabon verändert sich: Das Bairro Alto, einst verschlafenstes Vergnügungsviertel Europas, ist nun endgültig aufgewacht.

 

Der Polizist steht mit gesenktem Kopf an der Ecke und schreibt ein SMS. Gegenüber blockiert ein Lieferwagen die Straße. Der Lieferant eilt heran und entschuldigt sich wortreich. Der Polizist tippt in sein Mobiltelefon und blickt nur kurz auf: „Kein Problem, kommt ja eh niemand.“ Eine beschauliche Straßenszene aus dem Bairro Alto, dem „Hohen Viertel“, eine Szene, wie sie vor zwanzig Jahren hätte stattfinden können.

Eigentlich ging es hier nie hektisch zu. Im Bairro Alto, seit jeher die Ausgehmeile in Lissabons Altstadt, war bis zur Jahrtausendwende erschreckend wenig los. Es gab die notorischen Fado-Lokale mit ihren viersprachigen Speisekarten und zweitklassigen Musikdarbietungen. Daneben existierten ein paar neu belebte Kneipen wie das „Estádio“ – Bierversorgungsstelle und Beziehungsbörse der internationalen Community. Die In-Szene bestand ausschließlich aus dem „Frágil“, erstes Independent-Nachtlokal Portugals, und Pionier-Schwulentreff. Das „Frágil“ glich von Raum- und Lichtgestaltung dem Ur-“Chelsea“ in der Wiener Piaristengasse, und es beherbergte eine ähnliche Klientel – Post-Punk-“Vanguardistas“, wie man im Lissabon der späten Achtziger ganz ohne Ironie zu sagen pflegte.

Bis heute ist das Bairro Alto ein denkbar unironischer Ort. Doch mittlerweile floriert das Viertel nicht nur Samstags. Die Fado-Hütten werden weiterhin halbwegs erfolgreich mit Mainstream-Publikum gefüllt. Orte wie das „Estádio“ sind untergegangen. Und das „Frágil“ wurde zu einem gastfreundlichen Clublokal mit für die Stammgäste gewöhnungsbedürftiger Offenheit – die Türsteher verzichten auf ihre einst berüchtigten Auswahlverfahren. Das im Bairro historisch populäre produktive Herumstehen vor den Lokalen erlebt durch verschärfte Anti-Nikotin-Gesetze heute seinen Höhepunkt.

Einen Abend beginnt man heute am besten im „Clube da Esquina“, dem sogenannten Eckclub, der sich nach dem Herzen der brasilianischen Jazz- und Bossa-Nova benannt hat, der wiederum von Milton Nascimento besungen wurde. Die portugiesische Ausgabe hat sich allerdings auf Hip-Hop spezialisiert. Neuer Lieblingstreff für Einheimische ist das „Bicaense“, abseits von Mainstream und Touristenflut, wo man ab 2 Uhr früh nur mit Glück – oder als Freund des Hauses – Eintritt erhält. Gefeiert wird am Marmortresen, neben einer Sammlung alter Radioapparate, meist bis in die Morgenstunden.

 

Sämtliche internationalen Trends haben das periphere Lissabon inzwischen durchdrungen. Als letzter von ihnen schwemmt gerade eine Sushi-Welle durch die Ethno-Food-skeptische Metropole. „Das Sushi-Fieber“, titeln Lifestyle-Medien mit fetten Lettern. Durch Zeilen wie „Bereits dreißig Lokale in Lissabon servieren die berühmten japanischen Röllchen“ weht der Hauch der späten Achtziger Jahre. Das „Novo Bonsai“, Lissabons Vorreiter japanischer Küche, existiert seit 21 Jahren, fast seit damals betreibt es die Familie Yokochi. Die Yokochis waren ihrer Zeit so voraus, dass sie fast ebenso lange leer standen. Sie servierten Udon und Tempura zu einer Zeit, als die Portugiesen noch ausschließlich Bifinhos und Bitoques aßen – erst heute werden ihre Türen eingerannt.

„Orgulhosamente só“ hieß der Leitspruch des Diktators Salazar, dessen faschistischer Ständestaat am 25. April 1974 durch die Nelkenrevolution gestürzt wurde – die „stolze Isolation“, in die er das westlichste Land des Kontinents führte, wurde jedoch erst kürzlich zum Relikt. Bairro Alto ist immerhin Revolutionspflaster: Auf dem Largo do Carmo, dem Plätzchen mit Zugang zum Jahrhundertwendeaufzug Santa Justa aus Eiffelschem Eisen, stand vor knapp 35 Jahren ein junger, charismatischer Revolutionär mit Megaphon, Kapitän Salgueiro Maia, und gab der Ungeduld des Volks nach Auslieferung des Salazar-Nachfolgers Caetano eine Stimme: „Die Verhandlungen dauern schon lange. Die Verhandlungen dauern viel zu lange!“ Kurz darauf wurde Caetano ins Exil geflogen. Heute befindet sich an der Ecke die Milchbar „Académica“ mit ihren Azulejo-Wandgemälden. Auf der anderen Seite stehen unerbittlich die Ruinen der Igreja do Carmo, des einzigen Sakralbaus, der dem Erdbeben von 1755 trotzte.

 

Vormittags zeigt das Bairro Alto sein beschauliches Gesicht. Wäscheleinen sind über die Straßen gespannt, die Bausubstanz bröckelt, alte Damen lehnen in Erdgeschossfenstern, und wenn sie dünn genug sind, geben sie den Blick frei auf Wagenladungen von Marienbild-Nippes. Die Straßenköter sind Zuchthunden gewichen, für die sogar Tierärzte bereitstehen – vor Jahrzehnten in Portugal noch ein exzentrischer Beruf. In der Pastelaria am Eck treffen sich die Männer täglich seit hundert Jahren und vergleichen die Nicht-Gewinne ihrer Totobola-Lose. Hauptthema: Fußballgerüchte. „Benfica will jetzt den Linz kaufen.“ – „Den wen?“ – „Den Linz von Sporting Braga.“ – „Dadurch wird auch nichts besser.“ Die resignative Nationaleigenschaft saudade, also die Sehnsucht nach Wunschbildern, denen man letztlich misstraut, prägt die Mentalität des Lisboeta und findet im Fußball regelmäßig Bestätigung – wirkt doch der FC Porto trotz den jüngsten Skandalen im Management immer unschlagbarer.

Das Bairro hat den Fußballwahn der Euro 2002 überwunden, neue Läden schießen wie Pilze aus dem Boden. Der „Cogumelo Mágico“ klassischer Smart Shop, sieht sich als „dein Shop für legale Drogen“. Neben Posters aller bewusstseinserweiternden Pilze und einschlägiger Literatur bietet er jene kuriosen Substanzen, die der Gesetzgeber nicht verboten hat, weil sie ihm unbekannt sind. Außerdem gibt es Tee – garantiert drogenfrei.

Tee ist auch Hauptprodukt des Luxus-Feinkostladens „Charcutaria Garraferia Moy“, der Sortimente der Pariser Mariage Frères („französische Teekultur“) führt. Auf dem Franchise-Sektor öffnen Shops wie der Ableger des australischen Taschenherstellers Crumpler ebenso wie Dutzende Second-Hand und Designer-Geschenkläden. Weiter unten, nicht weit vom Aussichtspunkt Adamastor, serviert „A Camponesa“, die Bäuerin, modern abgewandelte Spezialitäten aus Regionen wie dem Minho und Trás-os-Montes, mit Glück erhalten Experimentierfreudige hier rohe Bacalhau-Wangen.

Für die Mode-Avantgarde steht ein Mann aus Belgrad. In einem ehemaligen Fleischhauerladen vertreibt Aleksandar Protich junges Design zu halbwegs erschwinglichen Preisen. Mit den „Gothic Girls“, die er auf der ModaLisboa vorführte, steht Protich für Mode jenseits von Ana Salazar, sozusagen für alles, was jung und sexy ist. Und in der „Embaixada Lomográfica“, der Lomobotschaft, laufen in Portugal, einem der klassischen Lomographie-Länder, die Fäden der Sowjet-Kamera-Kultur mit den wunderbar unscharfen Bilder zusammen.

 

Der Fado ist allgegenwärtig, doch wohin soll man gehen, wenn man ihn wirklich erleben will? Manchmal singt eine alte Frau in der Kneipe an der Ecke, vielleicht sogar mit dem Rücken zum Publikum, einfach, weil sie schüchtern ist. Doch auf solche Begegnungen kann man sich nicht verlassen. Am ehesten bietet das „Caldo Verde“, benannt nach der gleichnamigen Kohlsuppe, einen Fadoabend, in dem die Darbietungen nicht die Aufgedonnertheit des Touri-Milieus spiegeln, sondern im Hintergrund bleiben: Fado, für Nicht-Kenner eine erstaunliche Mischung aus Wienerlied ohne Wienbezug, Sehnsucht und Depression. Dazu gibt es die die Kohlsuppe (von portugiesischen Müttern allzu penetrant propagiert) und der „vinho verde“, ein junger, spritziger Wein aus dem Minho mit viel natürlicher Kohlensäure: zwei Spezialitäten, auf die Einheimische aufgrund von Überangebot in ihrer Kindheit oft verzichten.

Etliche Lokale im Bairro sind nun dem Kitsch entwachsen oder über die Tasca-Stufe hinausgekommen: das „Calcutá I“ bietet indisch-portugiesische Tandoori-Fusion und Samosas, das „Pap´Açorda“ hat sich auf die alentejanische Brotsuppe mit Knoblauch und Ei spezialisiert, und der „Cantinho do Bem Estar” – eigentlich unübersetzbar, vielleicht Wohlfühl-Ecklokal? – ist ein Familienbetrieb mit knappem Platzangebot. Frühkommende werden mit den großartigen Minifischen „Joaquizinhos“ belohnt. In der Luxus- und In-Kategorie gibt es noch das Mittelmeer-Restaurant Olivier, bekannt für seine süßen Schokoladennachtische, ein Lokal aus dem Segment „Bitte voraus reservieren“, das abseits der klassisch lusitanischen Speisekarte Spezialitäten wie Carpaccio, Gänseleber und Krebs-Guacamole bietet.

 

 

Restaurants und Bars: Frágil, Rua da Atalaia 126; O Cantinho do Bem Estar, Rua da Norte 46; Calcutá I, Rua da Norte 17-19; Novo Bonsai, Rua da Rosa 244; Pap´Açorda, Rua da Atalaia 37; Leitaria Académica, Largo do Carmo 1; A Camponesa, Rua Marechal de Saldanha 25; Clube da Esquina, Rua da Barroca 30-32; Bicaense, Rua da Bica de Duarte Belo, 42; Restaurante Olivier, Rua do Teixeira 35, www.restaurante-olivier.com; Fadolokal „Caldo Verde“, Travessa Poço da Cidade 40.

 

Shops: Crumpler Lisboa, Rua do Norte 20-22, www.crumpler.pt; Cogumelo Mágico, Smart Shop, Rua Luz Soriano 29, www.cogumelosmagicoslisboa.com.pt; Hairport, Rua da Bica Duarte Belo 47-49 (Elevador da Bica), www.hairport.info; Charcutaria Garraferia Moy, Rua Dom Pedro V 111; Aleksandar Protich, Design, Rua da Rosa 112; Embaixada Lomográfica, Rua da Atalaia 31.

 

Unterkunft: www.lissabon-altstadt.de bietet tageweise möblierte Wohnungen, auch im Bairro Alto.