Lissabon – Portugal

„Der Standard“, 3. Februar 2006


In jedem Lissabon-Reiseführer wird das „Eléctrico 28“, die Straßenbahnlinie 28, als Hauptattraktion angepriesen. Martin Amanshausers Plädoyer für die plumpen Gelben


Die kleinen, dicken Gelben

Das „Eléctrico“ 28 ist eine Legende. Ein dickes, gelbes Insekt, das sich scheppernd durch die unmöglich steilen Kurven im Lissaboner Stadtteil Alfama schlängelt – Kurvenradien von unter zehn Metern, Steigungen von bis zu fünfzehn Prozent. An den Haltegriffen außen hängen Halbwüchsige, die sich auf diese Weise den Fahrpreis sparen, und innen sind im Sommer die Fenster herausmontiert, damit der Passagierblock ein bisschen Fahrtwind abkriegt. Die Trambahnlinie 28 überquert seit vielen Jahrzehnten die beiden wichtigsten Stadthügel, und ihr Status als Sehenswürdigkeit hat sie vor dem Aussterben gerettet: Als Anfang der Achtziger Jahre ein Radikalschnitt im über hundert Kilometer langen Straßenbahnnetz der Companhia de Carris de Ferro de Lisboa, kurz „Carris“, vorgenommen wurde, wagte niemand, eine Linie abzuschaffen, von der jeder Reiseführer berichtete.

Vom ehemaligen Maurenviertel Mouraria schlängelt sich der 28er durch die Graça, passiert dabei Punkte wie den „Miradouro da Graça“ oder den Dienstags- und Samstags-Flohmarkt „Feira da Ladra“, und taucht ins Herz der Alfama ein, wo ein Teil der Strecke traditionell eingleisig geführt wird: Trotz der extrem schmalen Spurbreite von 900 Millimetern ist da einfach nicht Platz für zwei Gleise. Früher standen am Anfang, in der Mitte und am Ende des Abschnitts Fahnenschwinger, die dem jeweils nächsten Glied der Kette Fahrt- und Stoppsignale zuwinkten – denn das Terrain ist kurvig – heute behilft man sich automatisiert, das System ist durchaus fehleranfällig und es kann geschehen, dass zwei „Elécticos“ einander ins Gehege kommen.

Steil geht es den Hügel hinunter in die Baixa, die flache Unterstadt mit ihren Prunkstraßen, die vom Marques de Pombal nach dem vernichtenden Tsunami des Jahres 1755 errichtet wurde, gleich wieder hinauf zum Largo de Camões und geradeaus durch das hübsche Stadtviertel Estrela bis zum „Cemitério dos Prazeres“, oftmals als Kuriosum behandelt, denn korrekt übersetzt bedeutet der Terminus „Friedhof der Vergnügungen“. Selbiges klingt jedoch auf Portugiesisch ganz normal, Prazeres ist ein Stadtteil wie etwa Favoriten, bei dessen Erwähnung in Wien Lebende ja auch nicht an das Icon denken, unter dem sie bei Windows ihre bevorzugten Internetseiten abrufen. Über die Steinmauer des Friedhofes reicht der Blick bis zur Brücke des 25. April, des Revolutionstags, hinter der die Tejomündung in den Atlantik übergeht.

Lissaboner Tramfahrerinnen und Tramfahrer haben offenbar, diesen Schluss zieht man rasch, in ihrer Ausbildung neben einem Lehrgang für Geduld auch Kurse in Rhetorik belegt. Sie drehen nicht nur an der Schaltkurbel (zum Fahren: im Uhrzeigersinn, zum Bremsen: gegen den Uhrzeigersinn), sie sind es, auf deren Autorität das Volk bei Streits und Auseinandersetzungen zählt. Einige sprechen mittlerweile ausländische Gäste im 28er sogar in ihrer Muttersprache an. Was die meisten vermutlich nicht kennen, das sind die beiden österreichischen Treffpunkte an ihrer Linie: das „Pois Café“ und der Friseursalon WIP, beide von Frauen betrieben.

Das einzige österreichische Kaffeehaus Lissabons liegt an der rechten Seite der Kathedrale Sé und hat sich im ersten halben Jahr seines Bestehens auch unter Einheimischen einen Namen gemacht. Es heißt nach dem sympathischen portugiesischen Füllwort „Pois“ – man hört dieses Wort dauernd, und es ist noch unübersetzbarer als das klassisch portugiesische „saudade“ aus der Fadomusik – dessen Bedeutung sich den beiden jungen Inhaberinnen, Kathrin aus Wien und Bärbel aus Salzburg, in ihren ersten Lissabon-Monaten erst allmählich erschloss. Unterdessen sagen sie selbst „pois“, backen Strudel und wunderbare Kuchen, bieten internationale, portugiesische und österreichische Presse an, die ehemalige Lagerhalle floriert. Das WIP hingegen – Kürzel für Work in Progress – ist der Friseursalon der Vorarlbergerin Sabine Pawlik, eine der renommiertesten Haarschneiderinnen Lissabons. Auch ihr gemütlicher Laden liegt am 28er, zwischen dem Vergnügungsviertel Bairro Alto und dem Fluss Tejo. Und wer nicht vorhat, sich die Haare von Sabine oder ihren Kolleginnen schneiden zu lassen, kann einfach vorbeischauen. Das WIP ist ein offenes Kommunikationszentrum, hier stehen auch zwei Apple zum Surfen.

Hundert Meter weiter leidet der 28er aufgrund seines Status als rollende Sensation unter einer extrem inhomogenen Fahrgastzusammensetzung: die Touristen haben ihn scharenweise vor dem Hotel Mundial bestiegen, denn hier sind die Waggons noch leer. Nachdem sich Italiener, Polen und Franzosen niedergelassen haben, beginnt die Fahrt, und an jeder Haltestelle schreitet die Nationalisierung des Publikums voran, bis oben in der Graça die Portugiesen überhand gewonnen haben. Dort sind die 20 Sitz- und 38 Stehplätze oftmals schon vergeben, so dass die Tramfahrer, die auf der vorderen Plattform mitten im Getümmel auf einem Rundhocker sitzen, niemanden mehr einsteigen lassen.

Im Durchschnitt sind über vierzig historischen Vierradler-Gefährte, die auf der 28er-Strecke unterwegs sind, ein halbes Jahrhundert alt. Die Waggons heißen in Fachkreisen „Remodelados“, sie sind in ihrer Mehrheit renovierte Standard-Trams aus den Dreißiger Jahren. Zwei Skodamotoren halten sie in Bewegung. Weil es für Zweiachser kein zeitgemäßes Vorbild mehr gab, wurden die die 8,5 x 2,5 Meter großen Schepperkräne behutsam mit moderner Technik ausgestattet, um moderne Komfort- und Sicherheitsansprüchen zu erfüllen.

Was den 28er betrifft, so hat sich dieses Konzept als erfolgreich und richtig erwiesen. Leider wurden in den letzten zwei Jahrzehnten viele andere Linien außer Betrieb gesetzt, Vom Lissaboner Straßenbahnnetz sind 48 Kilometer übriggeblieben, weil sich nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter Verkehrsplanern, hartnäckig das Gerücht hält, nicht der explodierende Autoverkehr, sondern die kleinen gelben Garnituren trügen an den Verstopfungen im engmaschigen Straßensystem Schuld.

Denn durch das Zusammenspiel der engen Gassen in Graça und Alfama mit der traditionell schlechten Parkmoral der Portugiesen bleibt der 28er regelmäßig stecken. Zuerst wird wild gebimmelt, dann notiert sich der Tramfahrer das Kennzeichen des blockierenden Autos. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist Aufregung in der Umgebung entfacht, Passanten und Lokalbesitzer, Angestellte und Eckensteher, versuchen den Autobesitzer zu eruieren – um ihm die Schmach der Abschleppung zu ersparen. Irgendwann kommt der Besitzer schließlich angelaufen, mit hochrotem Kopf und wortreichen Entschuldigungen, die allesamt besagen, er sei ohne eigene Schuld „aufgehalten“ worden. Der Tramfahrer zuckt mit den Achseln und betrachtet mit Interesse das Ausparkmanöver, und die Passagiere drängen sich ans Fenster, denn mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass der Parksünder ein Einarmiger ist, und das ist auch im Lissaboner Verkehrssystem eine Rarität. „Wenn man bedenkt, dass der nur einen Arm hat“, murmelt eine alte Frau, „beherrscht er seinen Wagen recht gut.“ Niemand lacht.

Das angenehme Fahrtgefühl stellt sich ein, wenn die Portugiesinnen und Portugiesen – durch die Altstadtvierteln sind einen Menge alter, alleinstehender Frauen unterwegs, die gerne tratschen – ihr großes, allgemeines, überbordendes Gespräch beginnen. Es gibt vielfältige Gründe, seinen Nachbarn anzusprechen: Soll man dem Japaner helfen, der seinen Stadtplan verkehrt hält? Soll man dem alten Mann mit den Krücken nicht einen besseren Sitzplatz verschaffen? Zum Beispiel sitzt da ein dicklicher Junge mit Walkman, der könnte doch stehen – die Jugend! Regelmäßig kommt es auch zu kleineren Unfällen oder Unpässlichkeiten, ausgelöst meist vom Ruckeln und Zuckeln. Beim Einstieg wird einem Besoffenen von allen Seiten geholfen, der Mann wird über die Stufen in den Waggon geschoben, nach vorne gedrückt, und sogar der Tramfahrer streckt die Hand aus, um ihn auf die Plattform zu hieven. Niemand der Anwesenden stellt in Abrede, dass die Mitfahrt des Besoffenen von gewisser Bedeutung ist.

Gerne diskutiert man alte und gebrechliche Zeitgenossen: „Senhora, Vorsicht beim Aussteigen, ich will Sie nicht wieder stürzen sehen!“ Von hinten mischt sich eine Stimme ein: „Ich kenne die Senhora besser als Sie, die steigt immer recht gut aus und braucht Ihre Ratschläge nicht.“ Als kompetentester Spezialist, die Senhora betreffend, wird der Tramfahrer anerkannt, und jetzt löst er das Geplänkel mit dem Verdikt, die Alte sei eigentlich noch ganz gut bei Fuß – er kenne sie noch besser – man müsse ihr nur etwas Zeit lassen.



WIP, Friseursalon, Rua da Bica Duarte Belo 47/49 (beim Elevador da Bica), P-1200-054 Lisboa, www.hairpoint.info

Pois Café, o café austríaco, Rua São João da Praça 93-95, P-1100-521 Lisboa, rechts neben der Kathedrale Sé, Di-So 11-20 pois@gmx.net