Madeira – Portugal

„Der Standard“, 28. Septmeber 2001

Insel des Schnupfens

Wie sieht eine Insel von 750 km2 aus, die 300.000 Einwohner mit täglich 500.000 Touristen teilen? Zunächst einmal existieren sicherlich charmante Speisekarten. Auf Madeira, dem westlichsten Punkt der europäischen Union (Distanz zu Brüssel: 3.000 Kilometer), finden sich in den deutschsprachigen Abteilungen Gerichte wie “Gebratene Rippenstoss mit schawarz Pfefea”, “Spiebchen von Riwd Reginonal” und “Panado – wickelte Ei und Bret ein”. Der Kellner wird bestenfalls lächeln, wenn ihn ein beckmesserischer Tourist auf Fehler hinweist. “Who cares? Wir haben hier Heimvorteil.”

Wegen der monumentalen Berglandschaft mit ihrem vielzitierten Amphitheater-Gefühl wird die Hauptstadt Funchal als “Monte Carlo des Atlantiks” bezeichnet. Aber eigentlich ist Madeira trotz der mörderischen Verkehrsstatistik (schlimmer noch als am portugiesischen Festland, die meisten Madeirenser kennen internationale Straßengepflogenheiten offenbar nur von Auto-Verfolgungsjagden in US-Serien) – ein stinknormales Eiland mit einem geographischen Spezifikum: extreme Abgelegenheit. Die Vulkan- und Blumeninsel eignet sich deshalb geradezu ideal für die Entsorgung prominenter Persönlichkeiten, die keiner mehr haben will.

Im Jahr 1921 wollte man zum Beispiel den letzten österreichischen Kaiser, Karl I. (seit 1916 Nachfolger von Franz Joseph I.) nach zwei Putschversuchen nicht mehr auf dem Kontinent haben; nach den schlechten Erfahrungen mit Napoleons Exilinseln bot die portugiesische Regierung das romantische Madeira an. Karl und seine Gemahlin Zita wurden indes im Paradies nicht glücklich.

Seinen letzten Aufenthaltsort, vier Kilometer überhalb der Bucht von Funchal, verließ der 33-jährige Ex-Regent nur zum Zeitungskauf. Die Einwohner, tief beeindruckt von der königlichen Bescheidenheit, verehrten ihn schon vor seinem Tod als Heiligen. Bald zog er sich eine Bronchialgrippe zu, der er am 1. April 1922 erlag. Noch heute werden die Gebeine des “Rei de Áustria” (der nie den Weg in die Wiener Kapuzinergruft fand) in einem Seitenflügel der Igreja do Monte aufbewahrt, unter einem Meer österreichisch-ungarischer Kränze und Schleifen.

Das Drama: Karl hatte sich die Hotelrechnung im Zentrum von Funchal nicht mehr leisten können, und das feuchte Mikroklima im bergigen Monte trug wie nichts anderes zu seinem Niedergang bei. Das milde Klima, mit dem die Urlauber angelockt werden, ist auch heute noch gewöhnungsbedürftig. Am besten umschreibt man den lokalen ewigen Frühling (dauerhaft um 20 Grad) vielleicht mit dem Adjektiv unzuverlässig.

Über den Berggipfeln hängen Regenwolken, auf den Hafen brennt die Sonne, dazwischen weht kalter Wind und es tröpfelt. “Ilha da constipação”, höhnt man auf dem portugiesischen Festland, “Insel des Schnupfens”. Madeira ist kein Ort für tropische Sommernächte, aber ideal für Wanderungen entlang der levadas (offene Wasserkanäle), quer durch milde Hochebenen, bedeckt von “Laurissilva”, einer frischen, grünen Vegetation, hinauf auf den schroffen Pico do Arieiro oder den Pico Ruivo.

Auch hier schafft der Fortschritt Bequemlichkeiten: Seit Herbst 2000 ist das Kaisergrab mit dem kontroversiellen teleférico zu erreichen, einer Seilbahn mit österreichischer Hardware und Schweizer Kabinen. Die im Ruf der Selbstherrlichkeit stehende Regierung der autonomen Region Madeira (Alberto João Jardim ist seit 1976 an der Macht und wird von Feinden als “lokaler Mussolini” bezeichnet) hat die Route des teleférico buchstäblich über die Köpfe der Einwohner festgelegt – mit Panoramablick in die Gärten.

Wer älteste Technik vorzieht, für den gibt es von Monte aus Gelegenheit zu einer Schlittenpartie: der togoggan, ein Gefährt mit Kufen, die über den Asphalt schleifen, begleitet von jeweils zwei behuteten Helfern. Sie dirigieren den Schlitten mit Seilen – den Rest besorgt die Schwerkraft. Was zunächst wie ein kurioser Pensionistenspaß aussieht, erweist sich als halsbrecherische 4-Kilometer-Rutschpartie durch die steilen Straßen.

Madeira und die kleine Nachbarinsel Porto Santo (50 km entfernt, mit den einzigen Sandstränden des Archipels), bereits seit dem 14. Jahrhundert auf Weltkarten eingezeichnet, wurden im Auftrag des portugiesischen Königs 1419 “entdeckt”. Zunächst setzte man auf die unberührten Waldvorräte (madeira, port. = Holz), bald baute man Zuckerrohr an. Drei weitere Faktoren brachten der Insel Reichtum: Zucker – Wein – Tourismus. Im 17. Jahrhundert stieg das Interesse der Engländer nach den leicht rauchigen Karamelweinen der Sorten Malvasier, Bual, Verdelho und Sercial. Nach der Weinkonjunktur kam der Urlauberboom, der Reichtum kam jedoch auch diesmal nicht für alle. Die zentralistische Politik Lissabons verursachte mehrere Emigrationswellen (etwa nach London und New York) und führte zur Ausformung einer Gesellschaft, in der Tagelöhner auch heute oft nur für ein warmes Mittagessen arbeiten.

Die Madeirensische Küche setzt in groben Zügen auf portugiesische Hausmannskost. Zu Bacalhau, Bife und der Caldo-Verde-Suppe kommen die schmackhaften Spieße aus Ochsenfleisch (espetadas) hinzu, die am Abendtisch von Ständern baumeln, damit das Öl abtropft. Dazu trinkt man das lokale “Coral”-Bier, laut den augenzwinkernden und leicht machistischen Plakaten “die schönste Blonde der Insel”. Neben dem Madeira-Wein sei auch der pé de cabra (“Ziegenfuß”) erwähnt, ein hochprozentiger Genuss mit Kopfwehgarantie.

Improvisiert wird hier gerne, schließlich hat man Heimvorteil. Fragt man den Milchbauern nach dem Aufenthaltsort seiner Kühe, dann grinst er nur. “Laufen bei uns nicht frei herum. Würde gar nicht gehen!”, flunkert João Camacho Maltês. “Die leben in den casas de colmo.” Und das überrascht jetzt schon, denn casas de colmo nennt man das traditionelle Madeira-Haus mit strohgedecktem steilen Dach, das im Aufriss einem gleichschenkeligen Dreieck ähnelt. “Schauen Sie sich diese Landschaft an, Abhänge, Felsen. Wenn du sie freilässt, dann geht die Kuh hundert Meter spazieren und – zumba. Was glaubst du, wieviel eine Kuh kostet? 200 Contos!” Der Bewohner von Madeira ist erfahrungsgemäß ein seltsamer Kauz, und so ist es gut möglich, daß Senhor Maltês die Wahrheit sagt.

Madeira ist auch für eigenwillige Feste berühmt. Am 15. Jänner feiert man traditionsgemäß den “Dia de Varrer os Armários”, also den Kastenputztag, an dem man den Ramsch des dahingegangenen Jahres aussortiert. Am 31.12. begeht man den Höhepunkt des Madeirajahres mit dem vielleicht beeindruckendsten Feuerwerk der Welt. Wer das nötige Kleingeld hat, mietet sich im Hafen einen Tisch auf der Yacht, die einmal den Beatles gehörte und beundert von hier das Lichterchaos in der Arena Funchal.

Das Blumenkorso im Mai ist hingegen die Miniaturversion eines brasilianischen Karnevalaufzugs. Mit diesem Fest ist die Insel notorisch überfordert. “Für das Korso braucht man so viele Blumen, die haben wir gar nicht. Wir importieren aus Holland und Israel.” Blumenmädchen tanzen durch die Straßen, Touristen und Einheimische balgen sich um die Plätze in der ersten Reihe und klatschen den neuesten Blumenreigen. “Wieder einmal hat die menschliche Kreativität alle Hindernisse überwunden”, zeigt sich Bruno Pereira, Tourismusdirektor, auch dieses Jahr zufrieden.

Doch wirklich zufrieden ist Pereira erst, wenn der große Bruder, der Festlandportugiese, im Fußball geschlagen wird. “Marítimo” war 2001 immerhin portugiesischer Cupfinalist, auch “União” und “Nacional” spielen in guten Jahren eine Rolle in der nationalen Liga. Wer den 1000-Kilometer-Flug Lissabon-Madeira und den überfüllten Flughafen von Santa Cruz kennt, der kann sich vorstellen, dass die Auswärtsteams schon total gerädert ankommen. Und das ist natürlich auch Heimvorteil.