Martin Amanshauser

Das Weichbild der Honeymoonwelt

„Die Chinesen haben uns ein Nationalmuseum gebaut.“ Wer Bibin, einen etwa 40-jährigen Einheimischen aus Malé, zurückfragt, wieso die denn sowas tun, hört: „I don´t know. I think they like us very much.“ Auch Simon Hawkins, CEO der Malediven-Werbung, findet in der Pressekonferenz keine Erklärung für chinesische Zuwendungen: „In fact, I don´t know. Only the Chinese know it. You should ask them.“ Chinesische Inseltouristen geben stichhaltigere Erklärungen. „Investment“, sagen sie knapp. Man muss sie am Strand regelrecht abpassen. „Wir haben keine Kultur des Sonnenliegens“, sagt Chen Liang, 45, Bürgermeister einer chinesischen Kleinstadt, die im Vergleich zu Malé vermutlich riesig ist, „unsere Leute interessiert die Action am Meer. Hochseefischen, Wassersport. Jet-Ski, Wracktauchen.“

Genau mit diesen Vergnügungen machen die Malediven für gewöhnlich Schlagzeilen. Da passten die Agenturmeldungen zum Jahreswechsel, der Staat überlege, die Wellnessbereiche schließen zu lassen, um auf vermeintliche islamische Gefühle Rücksicht zu nehmen, so gar nicht dazu. Bibin schüttelt auch gleich den Kopf: „Wir haben einige Probleme, aber Islamismus ist keines davon.“ Wir stehen am Hafen von Malé, ausgesprochen Mahle, der dichtest besiedelten Hauptstadt der Welt. Bis ins letzte Eck der drei Quadratkilometer hat sich die 120.000-Einwohner-Metropole (ein Drittel der Gesamtbevölkerung) vorgearbeitet. Malé ist so anders als der Rest des Archipels – und seine Geschichte ist vertrackt.

Ab dem 4. Jahrhundert von Tamilen besiedelt, fühlen sich die Malediver seit neunhundert Jahren dem Islam verbunden. Auch heute findet man kein Demokratieparadies vor, sondern einen Staat, der als Bürger ausschließlich sunnitische Muslime anerkennt. Religionsfreiheit? Nein danke. Obwohl alles besser wird, seit die 32-jährige Diktatur von Maumoon Abdul Gayoom 2008 zu Ende ging. Es brauchte dafür die ersten freien Wahlen in der Geschichte – und einen Sieg des charismatischen Mohamed Nasheed, heute 43, Mitgründer der Demokratischen Partei. Der studierte Ozeanograph mit Gefängniserfahrung war einst Stammkunde bei Amnesty International. Nach seinem Sieg zeichnet er sich durch ein Gespür für Symbolik mit einem Hauch Populismus aus. Den enormen Präsidentenpalast bezog er extra nicht. „Er ist einer von uns“, erklärt Bibin respektvoll, „er geht morgens zu Fuß ins Büro.“

Nun vermutete die Islamistenpartei rund um den Ex-Diktator hinter den Hotel-Wellnessbereichen „versteckte Bordelle“. Deren Schließung stand zur Debatte, Nasheed hat offenbar wenig Spielraum. Dieses politische Spiel, das abgesehen vom weltweiten Imageschaden konsequenzenlos bleiben wird, ist der Preis der Öffnung. Islamischer Fundamentalismus bleibt in Wahrheit (noch?) ein Minderheitenprogramm, die Geldströme der Touristen werden überwiegen. Kopftücher will hier keiner, Leute wie Bibin halten die islamische Neobesorgnis um Moral, Alkohol und Schweinefleisch für machtstrategische Positionierungen der Opposition. „Was anderes zählt: Seit kurzem gibt es auf den Malediven Gewerkschaften, und eine kostenlose Krankenversicherung“, erklärt er, „dazu noch Unternehmenssteuern, wenn auch geringe.“ Jetzt fragt sich nur, auf welcher Seite die superreichen Hotelbetreiber letztlich stehen werden. Die Reformen stehen jedenfalls auf tönernen Füßen.

Und wir stehen weiter in Malé: „Wir Chinesen mögen Touren“, so Bürgermeister Chen Liang, quasi Paradetourist, „eine Stadt wie Malé gibt es sonst nirgends.“ Der Unterschied zu den Trauminseln ist denkbar groß. 35.000 Motorräder, gekennzeichnet mit Nummerntafeln, prägen den Verkehr. Leihen kann man keines. „Wer einen Motorradverleih aufmachen will“, erklärt Bibin, „müsste das beantragen.“ Würde mir als Ausländer denn ein solches Gewerbe genehmigt?, frage ich. „Das würden Sie dann herausfinden!“, sagt Bibin trocken.

Aus seiner Sprache, dem indogermanischen Dhivehi, hat es ein Wort bis zu uns geschafft: Atolhu, das Atoll. Malé liegt auf dem Süd-Malé-Atoll. Bibin steht an der Waterfront und deutet auf „die Treibstoffinsel“ gegenüber. Und auf eine andere weiter hinten: „Dort haben Besucher gratis gute Verpflegung.“ Klar, die Gefängnisinsel, er grinst. „Wir haben vor allem politische Häftlinge“, fügt er undiplomatisch hinzu. Er meint Kleinkriminelle aus Bangladesh. Laut Bibins Weltbild wollen alle Bangladesher Kleinkriminellen in Malé leben.

Über die Malediven spricht niemand, ohne ihre Anzahl zu erwähnen: 1.190 Inseln. Wie türkise Pölsterchen liegen sie im Dunkelblau. Allein ihre Schönheit und ihr Variantenreichtum innerhalb der strengen Formensprache (Kreis, Oval, Sichel) macht die Atolllandschaft zu einem Weltwunder. Etwa 220 Inseln sind von Einheimischen bewohnt, weitere 100 in der Hand von Hotels.

Die alte Formel lautete: eine Insel = ein Resort. In der Diktatur wurde der vermietbare Raum des Paradieses so am mühelosesten an den Meistbietenden vergeben. Die Starken gewannen, die Korruption wucherte. Mit Hilfe von Meerwasser-Entsalzungsanlagen und Generatoren entstanden herrliche Urlaubs-Gefängnisse mit monopolisierten Einkaufsläden, weiß-türkis, romantisch-abgehoben, immer ein bisschen unerreichbar. Normalsterbliche Westtouristen kamen einmal im Leben vorbei: in den Flitterwochen.

Auch heute herrscht von Resortseite Skepsis, etwa wenn der Präsident ein modernes Arbeitsrecht einfordert. Auch plant er, das einfallslose Tourismus-Konzept zu erschüttern. Ein Netz von Fähren soll entstehen, um die Mobilität zu erhöhen. Das wäre erstmals eine Investition für die Einheimischen, die von Touristen genutzt werden kann, und nicht umgekehrt. Nasheed beendete zudem die Separations-Politik: Das Betreten der Einheimischen-Inseln war für Touristen tabu, heute kann man die meisten besuchen.

Nehmen wir Kaaf-Gulhi, anders ausgedrückt Gulhi im Verwaltungsgebiet Kaafu (107 Inseln, 10 bewohnt), eine halbe Motorbootstunde von Malé, 893 Einwohner. Kokospalmen, feste Sandwege, kein Auto, zwei Motorrad-Zulassungen. Eine kleine Reparaturwerft, ein Generator. Im Zentrum Shops, zwitschernde Kinder, das Hotel Fulhoi mit seiner überdachten Esplanade. Wer nach den Preisen fragt, erntet gutmütiges Gelächter. „Wir sind ein Hotel ohne Zimmer“, schmunzelt der Kellner. Aber mit Tee, Cola, Kroketten. Zwei Straßen weiter, im White Hotel, würde es durchaus Zimmer geben – doch er schmunzelt wieder.

Gulhi produziert nichts, sieht man von Fischerei ab (Thunfisch). Die soziale Lage: Hohes Preisniveau, kaum Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Gulhi hat aber einen Standortvorteil, liegt es doch nahe am Hoheitsgebiet der Ananatara-Kette. Und gesetzlich müssen 45% der Hotel-Mitarbeiter Einheimische sein. Zu Anantara gehören Naladhu, die Luxusinsel, exklusiv, mit individueller Betreuung; Dhigu, die Familieninsel, Wassersport, größere Lokalvielfalt; Veli für die Honeymooner, die sich einmal im Leben das Malediven-Ding leisten; und schließlich Bushi, „staff island“. Hier leben die Angestellten, hier wird Wäsche gewaschen, Fußball gespielt. Wer von Gulhi in die schöne, neue Anantara-Welt wechselt, hat es gut getroffen.

Inseln wie jene von Anantara hinterlassen ein mulmiges Gefühl. Außer Debatte steht ihre Schönheit. Weiße Strände, hellblaue Lagunen, ein lebendiges Riff. Doch handelt es sich um ein Ferienprodukt und verströmt zwangsläufig dessen Tristesse. Ohne die lokale Dienstleistungsindustrie, die vielen Menschen ein bisschen hilft und wenige reich macht, wäre hier – gar nichts. Alles ist Import. In fast rührendem Gegensatz zur schwierigen Ausgangslage benehmen sich die Angestellten so, als wäre der Rohstoff Insel kein Mechanismus zur Profitmaximierung, sondern eine Wirklichkeit.

Der Tsunami 2004 richtete auf den Malediven keine Komplett-Zerstörungen an. Zu viele Riffe und unebene Gewässer, eine Insel brach die Wellen für die nächste. Schwer erwischte es exponiert gelegene Inseln wie Kandooma im Süd-Atoll. Insgesamt gab es 80 Todesopfer. In Malé schwappte das Meer ein Stück in die Straßen hinein – kein Problem. Was das Archipel stärker gefährdet als Flutwellen: die Erderwärmung.

17. Oktober 2009: Mohamed Nasheed und seine Minister begeben sich in Taucheranzügen zu einer Kabinettssitzung auf den Meeresboden – und unterzeichnen in vier Meter Tiefe eine Aufforderung an die Welt zur Einhaltung des Kyoto-Protokolls (1997) zur Reduktion der CO2-Ausstöße. Die Malediven besitzen Underwater-Credibility. Keine natürliche Erhebung ist höher als 2,5 Meter, die Inselwelt wird in 50 Jahren vom Meer geschluckt sein. Die Aktion wurde ein weltweiter PR-Erfolg: Das Time Magazine setzte den tauchenden Präsidenten auf die Jahresliste der „Heroes of the Environment“.

Auch Tourismusmann Simon Hawkins ist ein Visionär. „Maldives, the sunny side of life“, hieß der alte Slogan. Kein guter, argumentierte Hawkins, Sonne gibt es anderswo auch. Für das neue Branding schloss er Allerweltsbegriffe wie Paradies und Traum aus. In Zukunft steht „Always natural“ neben dem neuen Logo – einem Kreisel aus Meerestieren. Selbstverständlich ist Umweltschutz in einem Land, das ausschließlich aus Natur besteht, ein Thema. Doch die Realität sieht bitter aus: die Müllentsorgung direkt ins Meer, der dramatische Rückgang des Fischbestands (u.a. wegen des Nachtfischens für die Touristen), die gesetzwidrige Bautätigkeit auf den Hotelinseln unter Inkaufnahme der Riffzerstörung (u.a. für Privatflughäfen). Always natural? Ein Wunsch für die Zukunft.

Malé: Im Innenhof der alten Freitagsmoschee von Malé stehen hunderte Grabsteine, gefertigt aus den rauen Korallen von Malé. Es ist der Lieblingsort von Bibin. „Wissen Sie, Global Warming und das ganze Zeug hilft uns, im Gespräch zu bleiben“, erklärt er nachdenklich. „Bei uns glaubt kaum wer an diesen steigenden Meeresspiegel. Dafür geht das zu langsam voran.“ Doch nach Hulhumalé, in die lokale schöne neue Welt, will dann doch jeder. Wenige Kilometer gegenüber von Malé entsteht eine künstliche Insel, die einen guten Meter höher gebaut ist als alle anderen. Auf ihr sollen sich in zehn Jahren an die 60.000 Menschen den Wunsch nach etwas mehr individuellem Raum erfüllen. „Ich hab mir auch eine Wohnung reserviert, ich will dorthin“, sagt Bibin. Eine große Moschee steht schon.