Halbinsel Musandam - Oman

„Der Standard“, 24. März 2006

Die Verschämtheit des Arabischen Leoparden

Tessa hält vier oder fünf schwarze, runde Kügelchen in der Hand. Es ist Ziegenscheiße. Man könne Ziegenscheiße durchaus essen, sagt Tessa, sie sei extrem phosphorhaltig. Die Mitglieder des Teams nicken betreten. Es handelt sich um Wissenschaft, im Grunde gibt es nichts zu lachen. Aber beim Abendessen bricht Bernard, der Franzose, doch in schallendes Gelächter aus: „Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich in meinem Alter auf der Arabischen Halbinsel nach Tierscheiße suchen würde!“

Die Biologin Tessa, 47, Expeditionsführer Dominic, 28, und der lokale Nachwuchsforscher Hadi, 25, betreuen ein Team von zehn Freiwilligen auf der Halbinsel Musandam in Oman. Die Freiwilligen sind Touristen, die ihre Freizeit diesmal anders verbringen wollen. Weder in einem 5-Sterne-Hotel noch in einem Backpackerparadies, weder an einem Karibikstrand noch auf einer Almhütte, sondern als Teilnehmer einer wissenschaftlichen Expedition. Der britische Veranstalter Biosphere Expeditions stellt von vornherein klar: „Wir machen keine Touren, keine Safaris, keine Studienreisen, sondern Expeditionen.“ In Oman die erste relevante Bestandsaufnahme des Wildlebens im Nordoman – auf der Suche nach dem Arabischen Leoparden.

Einst schlich der Wüstenleopard durch die steinigen Wadis und über die kargen Ebenen des Berglands, auf der Pirsch nach seinen Beutetieren, der Arabischen Gazelle und dem Arabischen Tahr, einer seltenen Wildziegenart. Leoparden meiden Siedlungsgebiete. Wenige Menschen stehen ihnen je gegenüber. Wer heute forscht, wo sie geblieben sind, fotografiert rätselhafte Pfotenabdrücke, sammelt Exkremente und beurteilt ihren Frischegrad. „Wildkatze riecht am besten“, erklärt Dom, „besser gesagt, am wenigsten schlecht.“

Ausgerüstet mit GPS-System und Kompass teilt sich das Team in Kleingruppen. Wer Touren von höherem Schwierigkeitsgrad mag, stellt seine Kletterkünste auf die Probe, die weniger Mutigen durchkämmen die Flächen. Für Notfälle sind alle mit SOS-Pfeifchen ausgestattet, dazu ein paar kleine Nachtraketen. Expeditionsführer Dom trägt ein grünes Hebelinstrument mit sich, zum Aussaugen von Schlangenbisswunden: „Das Ding ist eher von psychologischem Wert ... nun ja ... passt lieber auf, damit keiner überknöchelt!“ Der gemütliche Barney, 65, bleibt untertags im Basishotel – er ist der Koch. Er durchstöbert die lokalen Märkte von Khasab, und am Abend brät er Fisch und macht Salat an. „Ich bin in Pension. Was soll ich in Großbritannien tun? Auf meinem Hintern sitzen und warten? Worauf?“

Die letzte glaubhafte Leopardensichtung auf der Halbinsel Musandam fand vor fünf Jahren statt, mit den Beutetieren sieht es ebenfalls schlecht aus. Tahrziege sah man seit sieben Jahren keine mehr, die letzte arabische Gazelle wurde vor zehn Jahren nachgewiesen. Solch spärliche Faktenlage, meint Tessa, muss noch lange nichts heißen in einer extrem dünn besiedelten Region mit weitläufigem, von Menschen unberührtem Gebirge: „Aber auch wenn wir letztlich mit einem Zero Report zurückkommen, hat das wissenschaftliche Relevanz.“

Die Halbinsel Musandam ist die nördlichste Spitze des Sultanats Oman, eine Exklave, die südlich an die Vereinigten Arabischen Emirate grenzt und sich nördlich zu einer Fjordlandschaft zerfranst, daher auch die Bezeichnung „Norwegen Arabiens“. Durch die Straße von Hormuz werden 90% des Golf-Öls verschifft, ein Viertel der Weltproduktion. Doch trotz der strategischen Lage ist Musandam ein weißer Fleck auf der Landkarte, „nature conservation“ war bisher ein Fremdwort, und deshalb hat Dom am ersten Abend, als sich das Team in der Hauptstadt Khasab (30.000 Einwohner) um den Gemeinschaftstisch versammelt, gesagt: „Ihr seid nicht nur conservation volunteers, sondern auch conservation pioneers!“ Das Funkeln in seinen Augen zeugte von britischer Ironie, doch nach der Anreise aus dem 700 Kilometer entfernten Muscat waren die Leute so erschöpft, dass externe Aufwertung gut tat.

Im Übrigen hat Dom recht: In den benachbarten Emiraten wird auf Expansion gesetzt, im Sultanat Oman ermöglicht indes eine behutsame und dennoch nicht „unarabische“ Politik die Arbeit von Biosphere Expeditions. Dom weiß, die Kooperation der zahlenden Gäste ist ebenso Teil des Systems wie die professionelle geographische Vorbereitung: die Forscher haben untersuchungswürdige Täler, Berge, Plateaus ausgewählt – eben dort, wo potentielles Habitat für den Arabischen Leoparden besteht.

Morgens fährt das Team mit drei Land Rovers ins Landesinnere. Über zerklüftete Kalksteinhalden streifen die Pioniere, um nach ausführlicher theoretischer Einführung das Handwerkszeug des Wissenschaftlers in freier Wildbahn zu erproben. Und es macht Spaß – rasch unterscheidet man zwischen den Exkrementen von Ziege (runde Bemmerl), Fuchs (Marke Patronenhülsen) und Caracal-Luchs (Patronenhülsen aus einem brutaleren Krieg). Aber wo bleibt der Leopard? „Auf der Suche nach Wildtieren gilt eine goldene Regel“, schmunzelt Tessa, „wenn du am Bergkamm bist, ist das Tier im Tal. Wenn du ins Tal absteigst, befindet es sich am Bergkamm. Noch Fragen?“

Bis zu fünfzehn Kilometer täglich durch brütende Hitze, literweise Wasser im Rucksack: keine Expedition für jedermann. Aber trotz aller Strapazen schafft es Tessa, die Teammitglieder mit Begeisterung anzustecken. Angesichts eines trockenen Wasserlochs bringt sie mit knappen Worten das Wildleben der Region zum Entstehen. Ja, und wo ist der Leopard? Wird die Expedition letztlich doch nur ein herausfordernder Trekkingurlaub? Nein, Hadi ist überzeugt, dass die Leopardenchancen weiterhin intakt sind. Er kommt aus der omanischen Südprovinz Dhofar, wo Kamerafallen die Anwesenheit des Arabischen Leoparden regelmäßig bestätigen. Konzentriert blickt er auf diesen oder jenen Punkt in der Steinwüste. Hadi beschäftigt sich seit Jahren vor Ort mit dem Thema, trotzdem sind ihm bisher nur drei Mal Leoparden zu Gesicht gekommen.

Abends sitzt das Team im Hotel in Khasab, schlürft Barneys britische Bohnensuppe und füllt die Datenbogen aus: Vegetationsgrad, Vegetationsschäden durch Viehzucht, WW für wide wadi, NW für narrow wadi, R für ridge, WH für waterhole. Auf dem nächsten Blatt wird das Aufkommen von Vögeln, kleinere Säugetieren, Leguanen notiert. Grüppchen, die eigene Wege gegangen sind, breiten ihre Frischhaltebeutel mit den Fäkalien auf dem Tisch aus wie Schätze. Tessa lauscht aufmerksam jeder Kleinigkeit: „Es ist eine Detektivgeschichte.“

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit beantwortet sie überzeugend: Die Regierung Omans hat die Studie mit in Auftrag gegeben, welche Schlüsse sie daraus ziehe, sei ihre Sache, für den Naturschutz bleibe zu hoffen, dass auf Tourismus gesetzt wird: „Kein Besucher will einen Ziegenpfad bestaunen, das Potential liegt im Wildleben, das es hier einst gab. Wer weiß, vielleicht gelingt es eines Tages, die zurückgedrängten Leoparden in ihrem ursprünglichen Habitat wieder einzusetzen.“

Bevor das Team in der zweiten Woche zur Feldarbeit übergeht – in potentieller Leopardengegend wird ein Zeltlager errichtet – beschäftigt es sich mit der Kontaktpflege: Interviews mit Einheimischen. Unter den Gesprächspartnern gibt es die einen, die nichts sagen wollen: In deren Augen hat es niemals Wildleben in der Region gegeben. Die anderen schaudern angesichts der Leichtsinnigkeit der Ausländer, die gar im Freien übernachten: was für ein Risiko angesichts der wilden Füchse, die in der Nacht Stückchen aus den Gesichtern der Menschen fressen! „Nur Aberglaube“, sagt Tessa und ihr Blick schweift über die kahle Landschaft, „der gehört dazu. Fest steht, wir befinden uns am Anfang eines Bewusstseinsbildungsprozesses. Ob er Erfolg haben wird, ist unsicher. Doch die Ergebnisse unseres Reports legen den Ist-Zustand schriftlich fest.“ Soll heißen: Niemand kann je wieder sagen, dass Musandam kein Wildleben hat.

Nach zwei Wochen hat das Team Gipfel erklommen, ist per Motorboot ins erstaunliche Städtchen Kumzar geflitzt – der nördlichsten und isoliertesten Ansiedlung Omans, nur über Wasser und Luft erreichbar – hat Wadis und Höhlen erforscht, hat sogar eine Kamerafalle errichtet. Und irgendwann geschieht, worauf alle warten: da ist eine Kratzspur im Sand, daneben eine Losung, die die Anwesenheit einer Großkatze nahe legt. Um die aufregende Nachricht zu bestätigen, muss das Exkrement analysiert werden, und bis das Ergebnis vorliegt, dauert es einige Monate: die Laborseite der Wissenschaft. Was die Kamerafalle betrifft, so zeigt das Videoband ausschließlich Ziegen. Barney, der Koch, hat indessen seine eigene Theorie entwickelt: „Den Leoparden gibt es irgendwo. Aber er traut sich nicht aus seinem Loch. Er ist sehr verschämt.“




Biosphere Expeditions, www.biosphere-expeditions.org, betreibt aktiven Naturschutz durch die Zusammenarbeit von Forschern und Laien. Expeditionsbeiträge beginnen bei ca. €1500, mindestens 2/3 des Beitrags fließen ins Artenschutzprojekt. 2006/2007 sind zwei Plätze für die Oman-Expedition zu gewinnen: www.biosphere-expeditions.org/omanwettbewerb. 12 BewerberInnen werden zur Siegerermittlung zu einem Offroad-Tag im Land Rover Experience Center in Wülfrath eingeladen. Biosphere Expeditions, Baumsatzstraße 1, D-72124 Pliezhausen, +49-7127-980242, deutschland@biosphere-expeditions.org. Der Autor flog mit Gulf Air.