Es heißt nicht Burg, sondern Festung

Salzburg hat den Stollwerkgeschmack meiner Jugend aufgegeben. Es ist jetzt ein ganz durchschnittliche, moderne konservative Stadt.

Neulich fragte mich jemand, wieso wir unseren Kindern den Nachnamen der Mutter gegeben hatten. Wieso denn nicht meinen? Es liegt daran, dass der Name Amanshauser in Salzburg, wo ich geboren wurde und aufwuchs, geläufig war. Vorfahren von mir hatten in der Innenstadt ein Sportgeschäft betrieben (Amansis-Skikanten und Schlauchboote), mein Vater war eine stadtbekannte Figur, bei vielen galt ich als der „junge Amanshauser“. Was das bedeutete, wurde mir erst klar, als mich eine Lehrerin mit dem heiseren Ruf „Ruhe da hinten, Artmann!“ zurechtwies. (Ich war verblüfft, dass sie die Freunde meines Vaters kannte!) Es mag Vorteile haben, der „junge Irgendwer“ zu sein. Deutlicher spürt man die Nachteile. Obwohl ich Salzburg mit 19 verließ, brauchte ich lange, um mich von meiner Rebellion zu emanzipieren. In Wien blieb ich zunächst Salzburger, aber in Salzburg galt ich bald als Wiener. Als Kinder zu kommen drohten, fand ich die Idee sympathisch, keine „jungen Amanshauser“ in die Welt zu setzen, sondern auf den ehrlichen, tschechischen Namen meiner Wiener Freundin zu setzen.

Letzten Sommer fuhr ich an einem Samstagabend mit dem Taxi entlang der Salzach. Wo es früher nichts gegeben hatte, reihten sich inzwischen die Nachtlokale. Oder waren es Energy-Drink-Lokale? Die Leute wirkten, als würden ihnen etwas Flügel verleihen. Der Taxifahrer musste zwei Mal bremsen, um torkelnden Jugendlichen auszuweichen, die sich entweder vor das Auto stürzen oder zur Flussböschung vorarbeiten wollten, um sich zu ertränken. Der Trubel wirkte auf mich wie eine Szene aus einem futuristischen Traum, als hätte jemand mit einem riesigen Salzstreuer das Nachtleben von – sagen wir – Madrid über die sogenannte Mozartstadt gepulvert.
Da war hinter meinem Rücken etwas völlig Irres entstanden, was ich Salzburg nie zugetraut hätte. Mein Nachtleben in den Achtziger Jahren hatte aus dem Chez Roland (wir nannten es „Scheißroland“), dem Half Moon („Haferl“, komplizierte Türsteher), der verruchten Schwarzen Katze, dem schwarzdüsteren Gegenlicht und dem alternativen Kuno bestanden, dazu kamen Bierlokale. Als 16-jähriger prostete ich die „Halbe“ hoch und knallte sie vor dem Trinken wie alle anderen brav auf die Tischplatte. Wir randalierten auch ein bisschen – letztlich gegen die „gute“ Salzburger Gesellschaft, aus der viele, mit denen ich unterwegs war, selbst stammten. Mit zehn Jahren hatte ich mich geweigert, das Akademische Gymnasium zu besuchen, die Mittelschul-Kaderschmiede des Bürgertums, in dem sich alle versammelten, deren Eltern ein Swimming-Pool betrieben. Ich wollte wohl nicht „wie die“ sein, weil ich ihnen, trotz fehlenden Pools, soziokulturell zu sehr glich.

Ich kam vom Festungsberg. Wir blickten auf die Stadt hinunter. Als Festungsbergler vergaß man nie zu erwähnen, dass man nicht vom Mönchsberg war. Die beiden Hügel sind zwar zusammengewachsen, aber wir standen auf Hauptdolomitstein und Dachsteinkalk, die anderen nur auf Kongolmerat. Wichtig war uns auch, dass man die Festung Festung nannte, ohne „Hohensalzburg“, auf jeden Fall aber niemals Burg. Wer Burg sagte, war Deutscher, wer Deutscher war, war Tourist, wer Tourist war, kannte sich nicht aus und nannte die Festung Burg. „Wo gehts hier zur Burg?“ ist wohl einer der Sätze, die ich am öftesten hörte. Die Burgsucher wurden von uns auf den richtigen Weg verwiesen, so wie man entgleiste Autos etwas genervt auf die Carrerabahn zurückstellt. Wir selbst stiegen vom Berg „in die Stadt“ hinab, wo wir, unter Ignorierung der Touristen – man hatte sich einen Blick zugelegt, der durch sie hindurch ging – „jeden“ kannte.
Natürlich kannte man in Wirklichkeit fast niemanden (immerhin hatte Salzburg 130.000 Einwohner), doch man grüßte ununterbrochen nach links und rechts. Ich fand den passenden Grußmodus nie, immer übersah ich jemanden, galt als unfreundlich. Der beste Freund meiner Schulzeit, Robert Meindl, beherrschte diese Klaviatur virtuos. „Woher kennst du die alle, und wie merkst du sie dir?“, fragte ich einmal. „Ach die“, antwortete er, als würde ihm sein Dauergrüßen gar nicht auffallen, „die sind ja alle nur Serwas-Freund.“ Mir war immer klar, dass ich später in einer Stadt leben würde, wo es eine Ubahn gab – aber die unerfüllbare Sehnsucht, eine hohe Anzahl von Serwas-Freunden zu managen, blieb mir bis heute.

Die Mozartkugel, in ihrem Original zwar silberfarben und von der Konditorei Fürst, hat als goldene „echte“ Mozartkugel (Marke Mirabell, Eigentum der „Kraft Foods Group“) mit 90 Millionen Stück jährlich ihren weltweiten Siegeszug angetreten. Christoph Wilhelm Aigner zieht in seinem großartigen Essayband „Salzburg“ (Hoffmann und Campe 2012) eine Analogie zu den „originalen“ Salzburgern – mit zumindest zwei Großeltern aus Salzburg – im Vergleich zu den „echten“, den Zugereisten, die womöglich ihr Leben dort verbringen. Ich gehöre definitiv der ersteren Gruppe an. Ein Original, dem es an Echtheit mangelt.
Salzburg war ein Hort des Nationalsozialismus. Als ich ein Kind war, füllten die alten Kriegsteilnehmer die Wirtshäuser, besprachen ihre Heldentaten, tranken weißen Säuerling und aßen Fleisch mit gezuckertem Salat. Ich höre ihre Stimmen noch heute. In die Lokale zogen Souvenirshops, diese Alten sind tot. Aus dem deutschnationalen Staub hat sich eine weitgehend zurechnungsfähige Stadt erhoben, die sich als Hassobjekt wenig eignet, die einmal im Jahr (Festspiele) außer Rand und Band gerät, sich ansonsten jedoch nur durch ihre viel besungene Schönheit von anderen unterscheidet. Das neue Salzburg irritiert mich manchmal, aber ich empfinde seine fröhliche Normalisierung als entlastend.

Natürlich man ist Salzburg weiterhin konservativer als anderswo, aber als Unbetroffener kann ich darüber nur lächeln. Ich lächle ehrlich gesagt jedes Mal, wenn ich vom reflexartigen Widerstand gegen ein Projekt im öffentlichen Raum höre. Da kommt die reaktionäre Natur der echten und originalen Salzburger zum Vorschein. Die Salzburger sind nämlich, vor allem wenn es um moderne Kunst geht, grundsätzlich empört. Sie fürchten alles Neue, außer es bringt Geld. Der Nachteil zeigt sich leider ganz konkret, worüber ich schon deutlich weniger lächle: Sinnlose Projekte, die ausschließlich dem Investorenglück dienen (momentan eine Erweiterung der Parkgarage im Mönchsberg um 600 Stellplätze, gegen jede Vernunft), werden gnadenlos durchgezogen. Die Politik ist in Salzburg immer am lächerlichsten, könnte man im Stile Thomas Bernhards denken, spätestens seit dem genialen Skandal, der die Mechanismen zeitgenössischer Finanzpolitik offen legte. Aber wer weiß, vielleicht war der Millionenverlust ja nur ein Zeichen dafür, dass Salzburg endlich so sein will wie alle anderen.

Martin Amanshauser, www.amanshauser.at, Autor und Reisejournalist, geboren 1968 in Salzburg, lebt in Wien und Berlin, schreibt jeden Freitag im Schaufenster die Reisekolumne „Amanshausers Welt“.