Schwaz, Tirol – Österreich


„Der Standard“, 11. Jänner 2002

Ein paar Flöten und ein Tagebuch

Zehn Mönche leben im Franziskanerkloster von Schwaz, und das ist wenig: im Refektorium hätten 150 Menschen Platz. An den Wänden hängen Bilder von Heiligen, vorne brennt eine Kerze. Während dem Tischgebet (es beginnt so: “Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft” und endet mit “Amen” und “An guatn Appetit!”) schweige ich. Als Betender, der die Sätze nur mitplappert, käme ich mir blasphemisch vor.

Für das Kloster bin ich eigentlich der Falsche. Als ein Exemplar der seltenen Spezies ungetaufter Österreicher ist mir das Christentum immer halbfremd geblieben. Also fuhr ich mit gemischten Gefühlen die 545 km von Wien nach Schwaz, wo ich, Sieger der Ausschreibung des dortigen “Literaturforums”, zwei Monate als Stadtschreiber bei den Franziskanern mitleben durfte.

Der Empfang war gruselig. Ein kleiner Pater mit grauem Haar öffnete die Pforte, und ich folgte seinem gespensterhaft schwebenden Schritt zu meiner Zelle. Frühstück morgen um 7 Uhr, man wird klopfen.

In den nächsten Tagen mache ich mich mit dem imposanten Gebäude aus 1507 vertraut, und auch mit der Fachsprache: ein “Guardian” leitet das Kloster, daneben gibt es Patres (geweihte Priester) und Fratres (Mitbrüder ohne Theologie-Studium). Ich treffe sie zu den Essenszeiten: 12.15 und 18.30, pünktlich. Das Tischgebet beginnt 30 Sekunden davor. Mein Weg ins Refektorium dauert 40 Sekunden. Daher ist es nötig, die Zelle jeweils 80 Sekunden vor 12.15 bzw. 18.30 zu verlassen.

Man zieht das Besteck aus den beschrifteten Etuis (etwa: ”Fr. Enrico”, oder ”P. Rupert”, auf meinem steht: “Stadtschreiber”), danach werden die (ausgezeichneten) Speisen serviert, mit Most oder Apfelsaft. Nach dem Essen gehen Bierkrüge durch die Reihen, gefüllt mit heißem Wasser und Geschirrspülmittel. Darin reinigt jeder sein Besteck. Nach dem Schlussgebet bedanken sich die Brüder bei Gott (“Deo gratias”), und ich bedanke mich bei den Brüdern.

Nachmittags erforsche ich den Klostergarten. Der Gärtner, Frater J.-J., ein Meister des Fachs, hat für den Winter alles in perfekten Zustand gebracht: Beete, Wiesen, Holz- und Glashäuser, einen kleinen Nadelwald, 30 Obstbäume – wie das Kloster selbst ist der Garten ein eigensinniger Organismus, der nichts mit dem unerfreulichen Chaos zu tun hat, das in der Welt draußen herrscht.

Zu meinem Nachhilfeunterricht im Fachgebiet “Christentum” komme ich nur zu rasch: innerhalb kurzer Zeit sterben zwei sehr alte Mitbrüder. Die Trauerfeiern sind die ersten Gottesdienste meines Lebens, und ich bin aufgeregt, weil ich etwas zu sehen kriege, was ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte: eine christliche Messe.

Die Mönche folgen ihrer kraftvollen Liturgie. Jede Bewegung ist quasi choreographisch festgelegt. Zwischen den Abschnitten des Begräbnisses wechseln sie sogar die Kleidung. Am offenen Grab singen sie ein Lied, das die Stärke des christlichen Gottes mit dem Argument illustriert, er stürze “die Mächtigen vom Thron”. Es ist wunderschön, subversiv, aber auch paradox, wenn man bedenkt, dass erfolgreiche Religionen definitionsgemäß auf der Seite der Mächtigen stehen.

Eines Abends stört mich plötzlich der Jesus über meinem Bett. Wenn ein Außerirdischer sehen könnte, dass man sich auf diesem Planeten die Statue eines nackten leidenden Mannes über das Bett hängt, würde er sofort denken, den Menschen müsse etwas Schreckliches widerfahren sein. Der Jesus hängt auf einem Holzkreuz mit “INRI”-Aufschrift, Nägel durch Hände und Füße. Unterhalb klebt ein Totenkopf ohne Kinnlade am Kreuz. Mir kommt ein rettender Gedanke: Vorsicht! Wer Figuren verabscheut oder fürchtet, bringt Gefühle auf, die jenen ihrer Anbeter ähneln. Gleich fühle ich mich besser.

Rund um das Franziskanerkloster findet Tirol statt: die Silberstadt Schwaz, 11.000 Einwohner, unfreiwillig in die Schlagzeilen geraten durch den Felssturz vom “Eiblschrofen”. Einige Straßen atmen noch die Exklusivität der einst zweitgrößten Stadt Österreichs (florierender Bergbau im 15. und 16. Jahrhundert). Die Menschen sind so freundlich, dass dem gelernten Großstädter ganz mulmig wird. Nur beim Grüßen gibt es Probleme. Wenn mich jemand mit ”Grüß Gott” begrüßt, antworte ich unbesonnen mit ”Guten Tag”. Sagt jemand ”Griaßdi”, rutscht mir mein vorgefertigtes ”Grüß Gott” heraus. Begrüße ich selbst mit ”Grüß Gott”, antworten die anderen freundlich: ”Griaßdi”. Versuche ich es aber vorsichtig mit ”Griaßdi”, durchschauen sie meine Nicht-Tirolerhaftigkeit und replizieren trocken ”Grüß Gott”.

Ich habe viel über die (fast demokratischen) Strukturen der Franziskaner erfahren, ich habe ihre Gastfreundschaft genossen und (u.a. beim Pförtner, dem lustigen Frater H.) einen bewundernswerten Arbeitsethos gesehen. Besonders nahe gekommen bin ich keinem, und das ist gut so. Ich bin dankbar für ihre Zurückhaltung dieser hilfsbereiten, gescheiten Männer. Nach einiger Lektüre über den Heiligen Franziskus fragte ich mich aber, ob sich der Orden nicht weit entfernt hat von seiner ursprünglichen Regel. Doch dann hörte ich eine Geschichte.

Vor kurzem starb in Schwaz, 84-jährig, Frater V., der als extrem verinnerlichter Mitbruder galt. Neben dem Schnitzen von Flöten war er berüchtigt für seine Bescheidenheit. In fremden Städten soll er, wenn möglich, im Freien übernachtet haben. Lud man ihn ein, schlief er nie im Bett, sondern sitzend auf dem Sessel. Nach seinem Tod räumte man seine Zelle aus, wobei auffiel, dass er eigentlich nichts besaß. Ein paar Flöten gab es, und ein Tagebuch mit Gebeten, die Frater V. für sich selbst geschrieben hatte. Sonst nichts.