Russland – Transsibirische Eisenbahn und Baikalsee

„Der Standard“, 2.9.05


Badewanne der Superlativen

Frau Oxana, 49, ist Prowodnitsa auf der Transsibirischen Eisenbahn: Waggonchef und Schaffnerin. Sie liefert die Bettwäsche der Fahrgäste, sie heizt den Samowar, sie sorgt für Ruhe, Ordnung und Wohlbefinden. Blauer Rock, weiße Bluse, blaue Krawatte und auf der Brust ein Adler der Russischen Bahn: das ist Frau Oxanas Arbeitskleidung auf den 5.191 Kilometern, während der 77 Stunden zwischen Moskva Jaroslavskaja und Irkutsk Passazhirskij. An jeder der 33 Stationen – wie Nizhnij Novgorod, Novosibirsk, Krasnojarsk – vollführt sie ihr Ritual mit routinierten Bewegungen: Öffnen der Waggontür, Wegklappen der Ausstiegsplattform, Reinigung des Handlaufs zum Treppeabstieg mit ihrem Staubtuch. Frau Oxana ist es, die den ersten Fuß auf den Bahnsteig setzt, wonach sie den Abstieg freigibt für die Passagiere.

Draußen eine Traube von Verkäuferinnen: Pirogen, Heidelbeeren, Kartoffeln, Huhn, Flusskrebse. Skolko stoit – wieviel kostet das? Zwanzig Minuten beträgt der Aufenthalt in größeren Stationen, bereits nach einer Viertelstunde huscht Frau Oxanas Blick zählend über ihre Schäfchen – denn einsteigen dürfen die Transsib-Passagiere nur im jeweils gebuchten Waggon. Mit einer abschließenden Handbewegung unterbindet sie jede weitere Handelstätigkeit: Einstieg bitte. Was passiert, wenn ein Passagier zurückbleibt? Frau Oxana lächelt: „Kein Problem. Einfach beim Bahnhofsvorstand ein Formular ausfüllen. Den Inhalt des Gepäcks auflisten, damit nichts verschwindet. Der nächste Zug kommt bestimmt.“

Was für Frau Oxana der ganz normale Arbeitsplatz ist, beschäftigt die Phantasie des Westens seit mehr als hundert Jahren: die Birkenwälder und Dauerfrostböden Sibiriens, Tajga und Tundra, durchkreuzt von der längsten Eisenbahnstrecke der Welt. Erbaut mit Spaten, Schubkarren und Pferdewägen, von lokalen Arbeitern, Kulis, Sträflingen, Verbannten. Bei der Schienenarbeit konnte man „Strafzeit gewinnen“ – 9 Monate zählten soviel wie 1 Jahr Verbannung. Die freiwilligen Siedler kamen in Güterzügen, viele von ihnen transportierten in den Waggons schon die Haustiere für den zukünftigen sibirischen Hof: In den letzten zwanzig Zarenjahren wanderten vier Millionen Menschen in das Land hinter dem Ural, Großbauern, Kleinbauern, Privatbauern, Schrebergärtner.

Bis zur Revolution 1917 waren in Richtung Wladiwostok noch russisch-orthodoxe Kirchenwaggons unterwegs, mit Glockenturm und Doppelkreuz am Dach, in der frühen Sowjetzeit führten junge städtische Idealisten per „Kultur-Propagandazug“ entlang der Strecke ihre Alphabetisierungskampagnen durch. Heute vermodern stillgelegte Waggons auf den Abstellgleisen, nicht unähnlich den allgegenwärtigen Fabrikruinen der Planwirtschaft ... doch die Schrebergärten blühen noch immer. An der Grenze zwischen Europa und Asien erhebt sich ein Obelisk, ein starrer weißer Zahnstocher, steht gleichsam als Fotomodel für die Sinnlosigkeit von Linien und Landmarken. Frau Oxana zum Beispiel lächelt da nur, den Obelisken hat sie nach eigenen Angaben noch nie gesehen.

Aus dem Blickwinkel der Transsibirischen Eisenbahn wird der Ural seinem Ruf nicht gerecht, keine schroffen Felsformationen, höchstens ein mildes Mittelgebirge. Hinter den Fensterscheiben des Bordrestaurants, in dem Borschtsch und Schtschi serviert werden, wandelt sich die Landschaft: Bruchstücke sowjetischer Kombinate, kleine Moorseen im Tiefland, und überall die sibirischen Holzhäuser mit ihren bunt bemalten Fenster- und Türrahmen. Russische Vielfalt in schwindelerregenden Dimensionen: nach Ekaterinburg führt die Strecke zwischendurch einmal durch tausend Kilometer Sumpf.

Moskau-Irkutsk, Durchquerung von fünf Zeitzonen. Dass die Tage dadurch nur 22 bis 23 Stunden haben, merkt man kaum, an Bord herrscht ebenso wie an den Bahnhöfen auf der Strecke konsequenter Weise Moskauer Zeit. Der Samowar liefert Heißwasser für Tee, der Wodka geht die Runde, irgendwann kippt die Stimmung und ein Transsibirischer Waggon wird zu einer großen, schicksalhaft verbundenen Familie. Freundschaften werden über Abteile hinweg geschlossen, zum Wodka und zu den Klappbetten passt ein altes russisches Sprichwort: „Wir sitzen eng, aber niemand ist beleidigt.“ Verbrüderungen, Trinksprüche, immer wieder Wodka, das klare Wässerchen; der nächste schmerzhaft klare Morgen kommt bestimmt; Frau Oxana lächelt da nur. Je näher das Ziel rückt, der Baikalsee, desto transparenter und purer wird die Landschaft. Und plötzlich liegt er da, an den Ufern des Angara-Flusses: der mondäne Bahnhof von Irkutsk, Tor zur wilden Baikal-Region.

Irkutsk selbst, im 17. Jahrhundert Kosakengarnison, heute eine Halbmillionenstadt, wird gerne als das „Paris des Ostens“ bezeichnet. Die nette Fußgängerzone im Zentrum erinnert an ein frühkapitalistisches St. Pölten, wären da nicht die Pizza-Schnellimbisse, die Jeansshops mit Sounds von Bruce Springsteen, und die allgegenwärtigen fahrbaren Kanister mit dem russischen Nationalgetränk Kwas, einem schmackhaften Mix aus Brot, Hefe und Zucker. Ein Mann bietet seinen kleinen Affen in einem Mädchenkleid mit Rüschen und Bommeln zum Fotografieren an. Junge Paare lieben es, sich mit diesem „Baby“ im Arm fotografieren zu lassen.

Sibirisches Temperament: Auf der Strecke von Irkutusk nach Listvjanka – eine hügelige Wahnsinnspiste durchquert entlang der Angara eine sanfte Waldlandschaft – gibt der Bus ordentlich Gas, alle Russen geben hier Gas, man bremst höchstens für Kühe. Trotz Rechtsverkehr befindet sich jedes zweite Lenkrad an der „falschen“ Seite, importierte japanische Gebrauchtwagen. Nach einer Stunde Auf und Ab bietet sich ein einmaliger Blick auf eines der letzten Naturreservate der Welt.

Der Baikalsee ist das große Erlebnis Sibiriens, der Badewanne der Superlativen: mit 1.637 Metern der tiefste Süßwassersee der Welt. Oft als „Heiliges Meer“ bezeichnet und geologisch dazu verdammt, dereinst ein Ozean zu werden, streckt er sich in Mondsichelform über 600 Kilometer durch den burjatischen Teil Ostsibiriens. Sein Volumen von 23.000 Kubikkilometern (tausend Mal der Bodensee) entspricht zwanzig Prozent des weltweiten Frischwassers, und auf seinem Grund, bei konstanten 3,2 Grad Celsius, wachsen Wälder aus Süßwasserschwämmen, und kriechen blinde Plattwürmer herum, bis zu einem halben Meter lang.

Das Baikalwasser ist von einer solchen Reinheit, dass es nur als Tafelwasser abgefüllt werden darf, diverse Mineralien fehlen. Dieses Wasser ist übrigens eines der liebsten russischen Importgüter in Japan. Verdanken tut der See seine Filterung den Millionen Epischura-Krebsen, die nur bis zu 2 Zentimeter groß werden, eine von 2600 endemischen Spezies. Der berühmteste Baikalfisch ist der Algen fressende, silbergeschuppte Omul, von dem erzählt wird, dass er einen schrillen Schreckensschrei ausstößt, wenn er gefangen wird. Seinem zarten lachsähnlichen Geschmack haftet kein Süßwasserflair an. Weit verbreitet ist auch die Golomjanka, eine Ölfischspezies. Sie taucht untertags in die enormen Tiefen des Sees ab, wo sie bis zu 125 bar Druck aushält. Nachts wagt sie sich nahe an die Oberfläche, von wo die Fischer in unsere Welt zerren. Wärme ist für die Golomjanka tödlich, sie schmilzt wie Butter.

Die Golomjanka ist neben dem Omul das Hauptnahrungsmittel der „phoca sibirica“ oder Nerpa, einer Ringelrobbe mit scharfen Krallen, die Eislöcher brechen kann und im weitgehend unberührten Nordteil des Sees lebt – zur Zeit beträgt die Population an die 100.000 Stück. Diese einzige Süßwasserrobbe ist ein Tieftaucher, denn im Winter ist das Baikaleis mehr als 100 Zentimeter dick, ab Dezember frieren täglich 5 Zentimeter Eisschicht dazu.

Auf der neu gewonnenen Seefläche entsteht rasch ein mit Verkehrszeichen geregelter Straßenverkehr, bis in den April hinein ist sie befahrbar. Zur Zeiten des Transsib-Baus setzte man Passagiere und Waren im Sommer mit Fähren über, im Winter 1904 wurden jedoch sogar die Eisenbahnschwellen direkt aufs Eis gelegt, die Schienen mit Laschen verbunden und mit Nägeln befestigt, und in der Mitte des Sees stand ein Bretterhotel, innen mit Filz verkleidet!

Nur bei Listvjanka, dem fünf Kilometer langen Küsten“dorf“, das sich in die Täler erstreckt, friert der See, durch den Angara-Abfluss, nie zu – weltweit einmalig. Egal ob bei bis zu minus vierzig Grad im Winter, durch die Trockenheit durchaus erträglich, oder im kurzen Hochsommer, legendär ist der freundlich-kontinentale Baikalhimmel, schon in Intourist-Zeiten mit dem Slogan „Mehr Sonnenstunden als am Schwarzen Meer“ beworben, der sowohl Sommergrün als auch Winterweiß in Gelbtöne taucht.

Im Südwesten des Sees liegt die Buchta Peschanaja, ein Mikrourlaubsparadies, nur über das Wasser und über schmale Wanderwege zu erreichen. Hier mündet eine Vegetation aus Kiefern, Lerchen, Zirbelkiefern in Kuhwiese und Sandstrand, wo sich das Badewasser im Sommer bis 16 Grad erwärmt. Sowohl in den einsamen Buchten, als auch dort, wo die Sommerfrischler Volleyball spielen und in realsozialistischer Sommerhüttenarchitektur Discos abhalten, landen die wenigen Baikalschiffe kopfvoran, im flachen Sand und werfen ihre steilen Stege kopfüber an Land.

Im Hintergrund erstreckt sich der Pribalkaiskij Nationalpark, eines von fünf Schutzgebieten. Denn auch in Sibirien sind nicht alle Zustände paradiesisch. Die „Ökologische Welle Baikal“ kämpft gegen eine Zellulosefabrik aus Sowjetzeit ebenso wie gegen den Plan einer unterirdischen Pipeline. Aus einer Gruppe von „Liebhaberinnen der englischen Sprache“ hervorgegangen, markiert diese 16-Mitarbeiter-NGO den Beginn der russischen Ökobewegung. Die wird viel zu tun kriegen: eine Klasse neureicher Russen entdeckt allmählich auch den Baikal für sich, an den Uferhügeln von Listvjanka thronen bereits einige geschmacklose Minipaläste, der Baugrund wurde gegen jede Vernunft in den Berg geschlagen, die glänzenden Neubauten sind Erdrutschen ausgeliefert.

Und was treibt unterdessen Frau Oxana, die Prowodnitsa der Transsibirischen Eisenbahn? Nach neun Tagen Schichtbetrieb im Waggon hatte sie acht Tage frei, nun beginnt ihre nächste Tour. In Irkutsk geht die Sonne unter, aber die Bahnsteiguhr von Irkutsk Passazhirskij zeigt frühen Nachmittag – Moskauer Zeit. Die Abteile sind gereinigt, die Betten bezogen, die Lokomotive stößt einen markerschütternden Pfiff aus. Frau Oxana lächelt da nur, sie und ihre Kolleginnen sind bereit: 77 Stunden, 5.191 Kilometer bis Moskau.


Der Autor war mit BUND-Reisen unterwegs (ökologischer Reiseveranstalter des "Bund Naturschutz" für Bahnerlebnisreisen in Europa und Asien). Die Transsibirische Eisenbahn und den Baikalsee kann man mit Zustieg in Wien ohne Flug im Winter von 15.2.-5.3., im Frühjahr von 27.5.-16.6. oder im Sommer bei Gruppenreisen von 19-21 Tagen oder individuell erleben. In der Transsib: 2-Bett-Belegung von 4-Bett-Abteilen. In Moskau und am Baikal: Kontakt mit russischen NGOs. BUND-Reisen, Bahnhof Lauf links, Eckertstr. 2, D-91207 Lauf, +49/9123/99957-10, www.bund-reisen.de