Usbekistan

„Der Standard“, 2005, Erscheinungsdatum wegen der Krise in zentralasien ungewiss

Frisches Fladenbrot im Kinderwagen

Wer Usbekistan (usbekisch: „Usbekiston“) sagt, der muss auch Registan (usbekisch: „Registon“) sagen – einer der erstaunlichsten Plätze der Welt. Der Registan, Samarkander verkehrsfreier Riesenplatz mit imperialem Understatement, ist quadratisch. An drei der vier Seiten stehen die blaugrün schimmernden Kuppeln der Medresen mit ihren enormen Portalen und schmalen Minaretten, sie starren einander an. Und der Betrachtende starrt sie ebenfalls an – so lange und so gierig, bis sie ihm ganz normal vorkommen. Denn angesichts seiner Größe und Großartigkeit scheint es unerhört, fast unmöglich, den Registan nicht schon immer gekannt zu haben.

Dabei ist das moderne Samarkand mit seinen 400.000 Einwohnern und den breiten Boulevards weit entfernt vom Märchenimage, das der Westen diesem Ort spätestens seit seiner Erwähnung in Goethes „West-östlichem Divan“ zuordnet. Das Fladenbrot „Leprjoschka“ wird von Bäckern und Marktfrauen auf umfunktionierten Kinderwägen durch die Straßen geschoben, Stände bieten selbstgemachte Nudeln und geriebene Karotten mit Knoblauch an, und die Architektur reflektiert die jüngere Geschichte: Alleen zwischen weitläufigen Universitätsgebäuden und endlosen Mietskasernen.

In Samarkand spürt man stärker als in der vitalen Hauptstadt Taschkent (usbekisch: Toshkent, 2,3 Millionen Einwohner), dass sich Usbekistan im Umbruch befindet. Wo Taschkent den Westen eingeholt hat, steht er in Samarkand noch vor der Tür, die Spannung einer neuen Zeit ist zu greifen. Die Handytöne sind fast noch schauriger als im Westen, die ersten Sportartikelhersteller öffnen ihre Hallen, über all dem liegt die Wehmut einer verlorenen Welt. Hier und da holpert noch ein Eselskarren über den Asphalt, erinnert an eine der klassischen Anekdoten von Hodscha Nasreddin.

Als Schmuggler passiert Hodscha, der asiatische Till Eulenspiegel, mit seinem strohbepackten Esel täglich die Grenze. Vom Zöllner wird er aufs genaueste untersucht, doch zu dessen Verzweiflung kommt nie auch nur das geringste Schmuggelgut zum Vorschein. Als Hodscha Nasreddin viele Jahre später den pensionierten Zöllner trifft, fragt dieser, was zum Teufel damals geschmuggelt wurde, jetzt könne er es doch zugeben. „Esel“, antwortet Hodscha.

Usbekistan ist ein junges Land mit großer Geschichte, aber ohne historisches Staatsvorbild. Die 1924 künstlich geformte Sowjetrepublik vereinte drei mittelasiatische Chanate. Als 1991 Unabhängigkeit proklamiert wurde, herrschte in der Bevölkerung Skepsis – ein Großteil der „nationalen“ Identität hatte sich paradoxerweise erst zu Sowjetzeiten geformt.

Aufgrund dieses Identitätsproblems muss die Republik geradezu verzweifelt nach einem Nationalhelden gefahndet haben. Auf der Suche stieß man auf einen denkbar katastrophalen Herrscher, der noch dazu kein Usbeke war. Noch ein halbes Jahrtausend nach seinem „Wirken“ begleitet ihn ein weltweit niederschmetternder Ruf: Tamerlan (1336-1405), wegen seinem Humpelbein auch Timur Lenk genannt, also „Timur der Lahme“.

Zuerst Chef einer nomadischen Räuberbande, legte Tamerlan besonderen Wert auf seine weitschichtige Verwandtschaft mit Dschingis Chan. Er eroberte ein instabiles Riesenreich vom Euphrat bis Tiflis, von Zentralasien bis Delhi, und erwarb unter anderem Ruhm durch die Errichtung einer Pyramide aus 90.000 Totenschädeln in Bagdad. Künstler und Handwerker ließ er zwangsweise nach Samarkand verfrachten – und die bauten ihm eine Stadt wie ein Weltwunder. Tamerlan verendete schließlich im kalten Winter 1405 beim Eroberungsversuch Chinas, weil er sich am Arrak zu Tode soff.

Das von ihm verursachte menschliche Leid ist nicht mehr greifbar, die wunderbaren Bauwerke Samarkands sind es jedoch, und Denkmäler von Tamerlan stehen nun als Leninersatz in Taschkent und anderswo. Etwas hilflos deutet ihn die neue Rhetorik zu „Emir Timur“ um – wir haben es also mit einem Fürst zu tun. Die Gebeine des Nationalhelden ruhen im Mausoleum „Gur Emir“, einem Samarkander Kuppelbau aus violetten, blauen und orangefarbenen Ziegeln, die in der Sonne changieren wie sonst nur die Riesenbauten am Registan oder die Grabmale der Nekropole Shohizinda nahe des Bazars.

Die interessantere historische Gestalt ist Tamerlans Enkel Ulug´bek. Als Kind hatte er in den kaukasischen und indischen Feldlagern einiges gesehen, galt als kränklich und talentiert. Er fokussierte sein Interesse auf Astronomie, und regierte stabil und gemäßigt bis 1449, als ihm Verschwörer der Kopf abschlugen. Weltbekannt wurde Ulug´beks Observatorium im Nordosten Samarkands, das im Jahr 1908 freigelegt wurde. Mit Hilfe eines Sextanten mit einem Radius von 40 Metern wurde ein verblüffend präziser Sternenatlas erstellt, der alle anderen Messungen bis ins 17. Jahrhundert an Genauigkeit übertraf.

An der Schwelle zur Neuzeit verlor jene legendäre Verkehrsroute an Bedeutung, die seit dem sechsten Jahrhundert vor Christus das heutige Usbekistan kreuzte – der Seidenstraße. Um die 12.000 Kilometer von Peking bis Palmyra in Syrien zurückzulegen, brauchte man sechs bis acht Jahre. Die Aufzucht der Seidenraupe war bis ins Mittelalter ein streng gehütetes Geheimnis des Reichs der Mitte gewesen, Seide mitunter das Zahlungsmittel. In der Oase Chiwa, besser gesagt in ihrer musealen Altstadt, weht auch heute noch der Hauch der Karawanenwelt.

Hier befindet sich die „Kalta Minor“, ein in der Mitte abgeschnittenes Minarett. Keiner weiß, was die Fertigstellung verhinderte: Entweder ging beim Bau das Geld aus, oder es gab Probleme mit der Statik, oder der Baumeister hatte sich verstiegen, einen höheren Turm als den höchsten in der damaligen Hauptstadt Buchara anzupeilen, was das Ende des Turms und sein eigenes Ende bedeutet haben könnte.

Neben der Zitadelle Ko´xna Ark findet man in Chiwas Innenhöfen bekuppelte und unbekuppelte Medresen. Usbekische Medresen schaffen es, eine ganz außergewöhnliche, fast absolute Ruhe zu vermitteln. Es ist der Friede muslimischer Innenhöfe, die Lautlosigkeit einer nach innen gekehrten Architektur, es mag auch an der Regungslosigkeit der klaren kontinentalen Luft liegen. Einzig in der Gerichtsmedrese Chiwas herrschen unruhige Majolikamuster vor – um den Chan während der langwierigen Verhandlungen vom Einschlafen abzuhalten.

Die Moderne tut sich in Usbekistan schwer, Verbindung zur Vergangenheit zu finden. Die laizistische Gesellschaft prägt wohltuende Sätze wie: „Wer die islamische Mystik und die Sufis versteht, der ist selbst ein Sufi.“ Denn die zentralasiatische Wirklichkeit sucht nach dem Verlust der russischen Hegemonie wieder den Anschluss an den Westen, und sie steht in guter Tradition: Usbekinnen machten sich im Kampf gegen Fundamentalismus früh verdient – die Frauenbewegung in den Zwanziger- und Dreißigerjahren hatte 227 Opfer zu beklagen, ihr Erbe schwingt jedoch in einem für alle Zeiten veränderten Bewusstsein bis heute nach. Heute gibt es sogar ein Verbot der totalen Verschleierung.

Die usbekische Republik der Nuller Jahre, vielfach wegen Nepotismus und Korruption in die Kritik geraten, steuert unter Präsident Karimow einen Kurs, der einerseits religiöse Positionen besetzt (heißt doch der Präsident selbst mit Vornamen Islam, usbekisch: „Islom“), andererseits gegen Mitglieder radikalislamischer Gruppen unter anderem mit Zwangsrasuren vorgeht. „Keine religiöse Propaganda ohne staatliche Genehmigung“, lautet der Leitsatz – trotzdem kommt es vielfach zur gewalttätigen Auseinandersetzungen. Eine Serie von Selbstmordattentaten im März 2004 endete mit der Verhaftung von 54 Verdächtigen. Seither herrscht Ruhe. Doch die Regierung, so Beobachter, nützt ihr Vorgehen gegen Islamisten auch als Vorwand für die Unterdrückung jeglicher Opposition.

An Chiwa schmiegt sich die Wüste Kizilkum, die „Rote Wüste“, ein gebirgiges Gebiet von der vierfachen Größe Österreichs. Hier leben Pflanzen wie die knall- bis hellgrüne „Ferula“, der Riesenfenchel, der im unwegsamen Gelände sprießt und mit ihrer unwahrscheinlichen Farbe eine Menge Insekten anzieht. Überall, wo nicht gerade Wüste ist, wird in diesem Land Baumwolle angebaut.

Noch immer ist Usbekistan der zweitgrößte Exporteur der Welt und Baumwolle eine heilige Kuh – auch wenn die Monokultur Unmengen Wasser frisst und die Böden zerstört. Eine Auswirkung davon ist das ökologische Desaster des rapid schrumpfenden Aralsees, einst viert-, mittlerweile nur noch achtgrößter Binnensee der Erde.

Auch die nächste große Agglomeration, 400 Kilometer weiter südlich, hat einen klingenden Namen: Buchara (250.000 Einwohner), Geburtsort des Avicenna, Philosoph aus dem 11. Jahrhundert. In der drittgrößten Stadt Usbekistans geht es gemütlicher zu als auf den breiten Sowjetboulevards Taschkents oder am Registan. Das Herz Bucharas schlägt an einem kleinen Becken in der Mitte der Altstadt.

Der Ort trägt den schönen Namen Labi-Hauz, wobei „Hauz“ das nicht ganz saubere, aber romantische Wasserbecken bezeichnet. Ähnlich einer Pferdeschwemme sprühen Wasserfontänen in den künstlichen Teich, an dem Kleinrestaurants ihre Tische aufgestellt haben. Untertags trinkt man Tee, mittags und abends gibt es Schaschlik und Plov, das National- und Hochzeitsgericht, aus Reis, Hammelfleisch, Zwiebeln, gelben Karotten und Baumwollöl.

In Zeiten der usbekischen „Businessmeny“ ist dieser Ort, wo die Alten Domino spielen und die Jungen Bier trinken, das nach Stärkegrad mit den Zahlen 3, 5 und 7 bezeichnet wird, ein beruhigend anachronistisches Rückzugsgebiet. Ringsherum stehen Maulbeerbäume, manche bereits abgestorben, der älteste von ihnen 1477 gepflanzt. Ein paar Kinder sitzen in seiner Krone.

Die Medrese Nadir Devon Begi, fünfzig Meter weiter, wurde als Karawanserei geplant und erst durch die Verwechslung eines vorbeireitenden Chans nachträglich zur Medrese geadelt. Wie bei vielen usbekischen Bauwerken erkennt man hier, in nicht-islamischer, zoroastrischer Tradition figürliche Darstellungen, zum Beispiel Mosaiken des Märchenvogels und Wappentiers Semurg. Zwischen dem Labi-Hauz und der Medrese steht noch ein Denkmal: jenes für Hodscha Nasreddin. Der bärtige Mann auf dem Rücken des eigensinnigen Esels. Als martialischer Held denkbar ungeeignet, bietet Hodscha einen erfreulicheren Anblick als Tamerlan auf seinen Sockeln.


Der Autor war mit Studiosus Reisen unterwegs, die verschiedene Studienreisen nach Usbekistan anbieten. Studiosus, Riesstraße 25, D-80992 München, +49/8950060-0, info@studiosus.de, www.studiosus.de