Vietnam


„Der Standard“, 14. Juni 2002

Im Land der Grünen Drachenfrucht

Nord- und Südvietnam. Martin Amanshauser löste ein Ticket für den “Thong Nhat”, auch “Reunification Express” genannt, der zwei Welten miteinander verbindet: die 1.700 Kilometer zwischen Hanoi und Saigon (Ho-Chi-Minh-City).

Zunächst argwöhnt man, jeder Versuch, die Straße zu überqueren, werde sich als aussichtslos erweisen. Von beiden Seiten rasen jeweils zwanzig Mopeds, drei Cyclos und vier Fahrräder aufeinander los. Hanoi, Hauptstadt Vietnams, 3,5 Mio. Einwohner, ist jedoch eine wahrhaftige Zauberstadt: Wagt man den ersten Schritt vom Gehsteig, teilt sich der Jordan, und man schreitet voran, wie durch ein Wunder in einem Stück und unüberfahren. Vermeidet man hastige Bewegungen, fließt der Teufelsverkehr unvermindert eigensinnig, aber gleichzeitig höflich, links und rechts am schneckenhaft kriechenden Hindernis vorbei, das man selbst darstellt.

Hanoi hat gar nichts von einer südostasiatischen Metropole: keine Hochhäuser, keine Marginalviertel. Eher ist es ein verschlafener Gigant, durch dessen Adern und Venen Zweiräder fließen. Auf den mopedbeparkten Gehsteigen wuchern kleine “Restaurants”, wo die Leute auf Fußschemeln an improvisierten Tischplatten sitzen und Nudelsuppe frühstücken. Realsozialistische Raumplanung herrscht nur rund ums Ho-Chi-Minh-Mausoleum. In einem Marmorwürfel wartet die gelbliche Hülle des Staatsgründers (entgegen seinem testamentarischen Wunsch) mit verschränkten Fingern auf die jährliche Eisenbahnreise nach Moskau, Zweck: Ganzkörper-Renovierung. Gleich hinter den Devotionalienständen, befindet sich ein 1-stöckiges Sommerhaus am Teich, Onkel Ho´s feine, aber, wie betont wird, bescheidene Bleibe. Hier steht seine geliebte Schreibmaschine, ebenso wie die Gießkanne, mit der er fotowirksam Pflänzchen besprengte (“originale” Gießkannen und Schreibmaschinen befinden sich übrigens in allen Revolutionsmuseen des Landes).

Wie sein Staatsgründer (1890-1969) ist Vietnam ein langatmiges Lebewesen, das Widersprüche nivelliert. Die “Old City” von Hanoi mit ihren 36 Einkaufs-Straßen ist wohl eines der überwältigendsten Stadtgebiete der Erde: das letzte lebendige Museum einer städtischen Marktwelt, wie sie früher war. Vom Papiergeld für die Verbrennung im Tempel bis zum Seidenschlafsack wird hier alles gehandelt, was Menschen benötigen oder zu benötigen glauben. Zwischen den Trinkhallen, in denen Bier vom Fass (“Bia Hoi”) ausgeschenkt wird, dazu gesalzener Trockenfisch mit Chili, stehen Stände mit frischen Baguettes.

Kolonialismus ist im modernen Vietnam nur ein barockes Wort. Das französische Erbe beschränkt sich neben dem Weißbrot auf das Praktische; die unerschöpflichen Keiler sprechen Frauen mit “Madame” an, Männer allerdings mit “Sir”. Das amerikanische Erbe, quasi Weltkulturerbe, wird ohne Bitternis übernommen, als Gegenwelt zu den köstlichen Erdnussspießen und Krabbennudeln haben Fastfoodläden eröffnet, die Chicken-Burger unter die begeisterte Jugend schleudern.

Die Weltmacht hat hier ihren beinahe triumphal gewonnenen Krieg verloren, weil keine Realität erzeugt werden konnte, in der ein dauerhafter Erfolg denkbar war. Hinterlassen hat sie eine gespaltene Gesellschaft, von der einige sagen, sie werde eines Tages zusammenwachsen: das siegreiche Nordvietnam, repräsentiert von Hanoi – und das geschlagene Südvietnam, respektive Saigon, die Weltstadt mit Flair, die 1976 offiziell in “Ho-Chi-Minh-City” umbenannt wurde.

Einst hieß die über 1.700 Kilometer lange Verbindunsgsstrecke zwischen den beiden Großstädten “Transindochinois” (erbaut 1899-1936). Ab den Fünfzigern wurde die vitale Transportader des Landes samt 2.000 Brücken nachdrücklich zerstört. Erst 1976 nahm der “Thong Nhat” oder “Reunification Express” die Fahrt auf. Vorbei an den Gräberfeldern und Bombentrichtern der Vergangenheit, entlang an den Reisfeldern der Zukunft, durch die alte Kaiserstadt Hue und die aufstrebende Küstenstadt Nha Trang, wo die rosafarbene “Grüne Drachenfurcht” (grün ist daran nur der Kaktus) gedeiht, Vietnams aromatischster Exportartikel.

Im klimatisierten Abteil des “Soft Sleeper” meldet sich eine Stimme aus dem Lautsprecher – ein historischer Abriss auf Vietnamesisch und Englisch. Würden die Schwellen nicht so rattern, könnte man dem Vortrag folgen. Der Zug holpert vierzig Stunden die Küste entlang, durch Tiefländer und Felslandschaften, hinein in das satte Grün der Tropen; zu den Mahlzeiten werden Reisgerichte aufgetischt. Frühmorgens stehen in den Reisfeldern die apathischen Rinder mit den Höckern, die dem Selbstbild nach einer Nacht “Soft Sleeper” so frappierend ähneln.

In Ho-Chi-Minh-City – “Saigon” heißt offiziell nur mehr der innerste Bezirk der 5-Mio.-Stadt – sind die Spannungen zwischen den Landesteilen aufrecht. Vielen Ex-Kollaborateuren wird der Bürgerstatus verweigert, sie verdingen sich als Cyclofahrer; Polizei und Beamtenschaft ist von Nordvietnamesen dominiert. Doch der moderne Saigoner will von Krieg und Vergangenheit nichts wissen. Er kleidet sich westlich, trinkt “Tiger Beer” und hört Asia-Schmuserock oder Viet-Techno. Im “Pham Ngu Lao”-Bezirk mit seinen Minihotels, Internetcafés und Pizzaläden wurde die Erforschung des urbanen Mitmenschen zum Kult erhoben: am Gehsteig sitzt man in Klappsessel-Reihen, wie im Kino. Die Leinwand ist die Straße, durch die Dienstburschen rennen (mit Stäben auf Eisenstücke trommelnd), Taxis aus der Chinatown Cholon düsen, Liebespaare auf Zweirädern knattern, Trockenfischwägen, Blumenverkäufer und Bettlerinnen mit den hellen, konischen Hüten taumeln.

Und auf welche Art hält Ho-Chi-Minh-City seinen Namensgeber in Ehren? Im Museum findet sich (neben Gießkanne und Schreibmaschine) ein halb zerflossenes, gestocktes, braunes Zuckerl, das Onkel Ho einer sozialistischen Funktionärin geschenkt hat – irgendwann in den Sechzigern.