Wien, Salzburg, Graz – Österreich


„Der Standard“, Juli 1999

Der große Österreichische Bahnhofstest

(historischer Artikel aus dem Jahr 1999)

“Günther, Südtiroler Platz! Sagt dir das etwas?” - “Ja. Schon! Lehnt dort nicht Intaktes neben Kaputtem?”

Andreas Karner, Der freudlose Vormittag


Die “Bahnhofsoffensive” der ÖBB hat sich zum Ziel gesetzt, 43 der meistfrequentierten österreichischen Bahnhöfe um rund 8,2 Milliarden Schilling zu sanieren – Schlagwörter: Service, Sicherheit, Sauberkeit. Bevor nun all der romantische Dreck der Vergangenheit weggekehrt und durch funktionales Design ersetzt wird, werfen wir einen Blick auf die Realität – in Wien und Salzburg, aber auch im renovierten Graz.

Im internationalen Vergleich ist Wien eine Stadt mit unglücklicher Bahnhofsgeschichte. Der prunkvolle Nordwestbahnhof (1870 im Neu-Renaissance-Stil erbaut, wie alle großen Stationen im Krieg zerstört) wurde zum Frachtenbahnhof, der Aspangbahnhof aufgelöst, den Nordbahnhof (1839, hier pflegte der Kaiser anzukommen) funktionierte man zur Schnellbahnstation um, der ehemals elegante Staatsbahnhof fristet sein Dasein als Ostflügel von Wien Süd. Und der Traum von einem Wiener Zentralbahnhof am Franz-Josefs-Kai konnte nie verwirklicht werden.

In Österreich sind keine historistischen Bahnhofsprunkbauten aus dem 19. Jahrhundert übrig. Am nächsten kommt dem Ideal der Westbahnhof mit seinen schwungvollen Stiegen, die den Reisenden quasi auf Bahnsteigebene hinaufziehen. Den Stationen West und Süd, im Krieg zerstört und neu aufgebaut in den Fünfziger Jahren, fehlt jedoch das Flair von Gare de l’Est oder Roma Termini. Schließlich machte der Eiserne Vorhang die Stadt von der Drehscheibe des Vielvölkerstaates zur Peripherie Westeuropas – in den Achtzigern dauerte eine Reise nach Prag länger als zu Beginn des Jahrhunderts.

Unsere Beurteilung erfolgte nach ausgeklügeltem Punktesystem: Neben Kriterien wie Architektur, Benutzbarkeit, Lage, Verkehrsanbindung, Übersichtlichkeit, bzw. Öffnungszeiten der Geschäfte (Banken, Post etc.) oder Service (Passbildermaschinen, WC-Anlagen, Gepäckaufbewahrung, Bankomaten, Kondomaten, Duschen) legten wir besonderes Augenmerk auf die Ernährungslage: Dabei stand das klassische Bahnhofsrestaurant (meist: “Rosenkavalier”) den Buffets und Kneipen gegenüber, der Lebensmittelshop dem Supermarkt, diverse Bäcker (meist: “Anker”) den Fast-Food-Ketten. Hervorzuheben ist das Bahnhofsspezifikum “Euro-Snack”, populär wegen leicht gepfefferter Hamburger. Doch Vorsicht: Schmitzelsemmelgefahr!

Am Buchsektor herrscht abseits von Donna Leon ziemliche Flaute. Doch sind manche Zeitschriftenabteilungen ausgezeichnet sortiert. Weil für jeden was dabeisein soll, fahndeten die Tester nach folgenden eher versteckt gehaltenen Presseprodukten: dem österreichischen Westernmagazin “Western News”, der türkischen Tageszeitung “Sabah”, dem Satireheft “Titanic”, der Hamburger Sexpostille “St. Pauli-Nachrichten” und nicht zuletzt nach der “National-Zeitung” – in einem Land, in dem eine rechtsextreme Partei fast ein Drittel der Wählerstimmen erringt, sollte man auch Lesestoff für die Anständigen bereithalten.

Hier die Charts von unten nach oben:


Wien Nord – 63 Punkte

Der Nordbahnhof am Praterstern, einst prunkvoller Ausgangspunkt für Reisen nach Brünn und in die Böhmischen Länder, ist mit seinen miesen Proviantläden Meister der Schäbigkeit. Abgesehen vom “24-Stunden-Automaten”: hinter kugel- und doppellitersicherer Glassscheibe werden 100 nicht-alkoholische Produkte (Mozartkugeln, Frucade oder Rote Rüben) per Eisenschaufel herangeschafft. Allerdings erhielt der Tester Produkt 1307 (Sprite) statt 1308 (Almdudler).

Im Schatten des Riesenrads liegt das Paradies für Fastfood-Junkies: ”Hoppala Kebap” fusioniert mit ”Pizza Queen”, ”Marios Maroni”, dazu ein “Köstli” (mit den einzig essbaren Bosna östlich von Linz), und ein ”Börek”-Stand. Leider auch Paradies für Alkohol-Junkies, die in der heruntergekommenen Halle ziemlich struppig herumstehen. Tipp: Benutzen Sie den Billa-Hintereingang im Straßenbahntunnel. Wer einen Job sucht: das “Friseur Haar Studio Schmid” nimmt Friseurin auf.


Wien Süd – 66 Punkte

Der schmuddelige Doppelbahnhof mit den meisten Kubikmetern Luft über dem Kopf besticht durch die Weitläufigkeit seines Ost/Süd-Komplexes. Nur zerstört der Kleingeist der Achtziger und Neunziger Jahre die Raumlogik: die Zuckerlstände und der aufgeschnittene ÖBB-Waggon zeigen nur zu deutlich die Angst vor einem durchfluteten leeren Raum.

Mitten in der Halle lauert der steinerne Markuslöwe, idealer Treffpunkt, Abstellplatz für Bierdosen und Symbol der historischen Verbindung Wien-Venedig. Der imposantesten Milde-Sorte-Werbung des Landes hängt jene allseits verhasste Computerinstallation gegenüber, die unter Absonderung nervigen Tickens den armen Kärntnern und Steirern ihre Fahrt über die Förderbänder regelmäßig zur Hölle macht. Auf zwei Bildschirmen zuckt ein überdimensionales Auge im Takt der vergänglichen Zeit – Hohn für die Zuspätkommenden. Diese Art von Kunst produziert Amokläufer.


Wien Mitte – 72 Punkte

Der ehemalige “Bahnhof Hauptzollamt” mit perfekter Ubahnanbindung und mit Schnellbahn zum Flughafen beherbergt eine weitläufige Geschäftsmeile: eine klägliche Buchhandlung neben dem “Interspar”, hinten beim depressiven Busbahnhof (samt Restaurant “BUS” hinter grauschmutzigen Stores) eine Sushi-Bar und ein Zigarettenautomat aus den Siebzigern, in dem man Falk für ÖS 12.- und Hobby Extra für ÖS 17.- kriegen würde – wenn die Silberladen gefüllt wären. Hauptattraktion: Die zweistöckige Markthalle mit dem besten Fleischangebot der Stadt ist immer einen Ausflug wert. Gegenüber bringt der abgewirtschaftete “City Airport Terminal” einen Hauch Schwechatflair nach Wien-Landstraße.


Wien Franz-Josefs-Bahnhof – 77 Punkte

Unter dem Glaspalast döst eine enge, leicht bedrohliche Bahnhofshalle dahin, in der neben dem Panoramastadtplan eine Sammlung ziemlich abgegriffener ÖBB-Kunst (samt der unlesbarsten Bahnhofsuhr Mitteleuropas) zu finden ist. Vier ehrwürdige, überdachte Gleise von 1870 entlassen die Züge leider nicht mehr nach Prag, sondern nur noch nach Tulln, Tulln und Tulln.

Neben dem populären – täglich geöffneten – Billa ist das nette Kinderland im Mc Donald´s hervorzuheben. Hingegen wie aus einem Horrorfilm das blumenbesteckte Buffet mit dem Namen “ZUAGRAST”. In der Gegend kann man sich 1000.- Finderlohn für den entflogenen Papagei STRIZZI dazuverdienen, auf dem Spaziergang trifft man die berühmten grün-türkisen Ampelmännchen Alsergrunds – eine Rarität!


Salzburg Hauptbahnhof – 80 Punkte

Dieser Jugendstilbau ist ein merkwürdiger Einzelfall – gleichzeitig Grenzbahnhof und halber Kopfbahnhof. Völlig wirre Raumlogik. Als architektonisches Monument ist das wunderschöne Bahnhofsrestaurant immer einen Besuch wert. Täglich geöffnet hat auch die Nebenstelle der Caritas/Erzdiözese Salzburg, wo die Obdachlosen (sie schlafen in der sogenannten Waggonie) telefonieren dürfen und betreut werden.

Vor den Toren, am Südtiroler Platz, lebt der wohl beeindruckendste Schildbürgerstreich der Neunziger Jahre: die Ewige Baustelle. Seit Jahren wird hier ohne erkennbares Endziel umgruppiert. Resultat: Lokalbahnstation und Busbahnhof sind jetzt unterirdisch – unnötiger Aufwand, braucht keiner. Nur der großartige Gyrosstand lässt sich nicht töten, er wird hin- und hergeschoben, momentan steht er dem “Schandfleck” Hotel Europa gegenüber.


Graz Hauptbahnhof – 80 Punkte

Nach Runderneuerung durch die “Bahnhofsoffensive” sehr sauber, steril und brav, leider auch ohne jeglichen Charme. Hier ist Service großgeschrieben, die Bequemlichkeit (keine Sitzgelegenheiten!) lässt jedoch zu wünschen übrig. Auch fehlt der direkte Zugang zum unterirdischen Shopping-Center “Annenpassage”. Exzellente Übersichtlichkeit, ideale Verkehrsanbindung zur Stadt, angenehmer Zugang zu den Bahnsteigen, schönes Reisezentrum.

Sehr provinziell dagegen der hässlichste “Rosenkavalier” Österreichs, super-holzvertäfelt samt stickigem 10m2-Automatenraum als Bonus für Spielsüchtige. Merkwürdiges Prunkstück im linken Flügel der Station: ein Nonstop-Sexkino (”Laufsteg-Miezen – stramm im Schritt”).


Wien West – 91 Punkte

Ein echter Arroganzler: Meister der Urbanität, Übersichtlichkeit und Proviantversorgung. Seit der Eröffnung eines “Subway” auch am Fast-Food-Sektor okay. Neuerdings mit nettem Café, durch dessen Glaswände man die Halle überblicken kann. Das Bahnhofsrestaurant ist wegen seiner gemütlichen Terrasse im Sommer stark frequentiert.

Schlechtpunkte: Endlose Toilettensuche ist vorprogrammiert. Dreckiges Reisezentrum. Und die Post hat nur mehr bis 23 Uhr geöffnet – das will eine Großstadt sein? Das Verlassen des Bahnhofs wird meist per Ubahn vorgenommen: Der weitläufige Europaplatz hat auch nach der Sanierung nicht zu seinem Charme gefunden und versteckt seine Mariahilfer Straße, so gut er kann.

Mitarbeit: Linda Stift, Alexander Kugler, Harald Stift.